Vor 75 Jahren endete der Zweite Weltkrieg. Mit weit über 50 Millionen Opfern ist er die bisher größte selbst verschuldete Katastrophe der Menschheit. Durch den Krieg selbst und in dessen Schatten verübten die Nationalsozialisten das Menschheitsverbrechen der Shoa: Sechs Millionen Juden wurden ermordet. Auch Hunderttausende Roma und Sinti, Menschen mit Behinderungen, Kranke, Homosexuelle und politisch anders Denkende sind Opfer eines systematisch betriebenen Völkermords geworden.
Heute können wir den 8. Mai als Tag der Befreiung begehen, auch wenn in diesem Jahr angesichts der Corona-Pandemie keine größeren öffentlichen Gedenkveranstaltungen stattfinden können. Dennoch: Die Erinnerung darf nicht verstummen, insbesondere weil immer weniger Menschen unter uns sind, die Terror, Tod, Flucht und Vertreibung selbst erlebt haben. Deshalb ist es umso wichtiger, ihnen Gehör zu schenken, wenn sie ihre Schickale zur Sprache bringen.
Gleichzeitig ist es die Aufgabe der nachgeborenen Generationen die Erinnerung wach zu halten, sie weiter zu tragen, damit sich Gleiches nicht wiederholt. Die meisten zogen und ziehen aus den Schrecken des Krieges eine bemerkenswerte und verpflichtende Lehre: Die Welt, die verschiedenen Völker und Kulturen sind als Schicksalsgemeinschaft miteinander verbunden. Eine Katastrophe solch grausamen Ausmaßes kann nur verhindert und dauerhafter Friede kann nur sicher sein, wenn die Menschen einander die Hand reichen, wenn Völker und Staaten sich zusammenschließen und gemeinsame Räume schaffen zur Verständigung, zur gegenseitigen Unterstützung und zum Ausgleich.
Um das Erinnern wach zu halten, ist es unerlässlich, sich derer zu erinnern, die sich oftmals unter dem Einsatz des eigenen Lebens laut und deutlich gegen Totalitarismus, Menschenverachtung und –vernichtung und Krieg gestellt haben.
Selbstredend waren auch getaufte Christen Teil der Kriegsgesellschaft. Nicht wenige erhofften sich nach der großen Niederlage des Ersten Weltkriegs, den Erfahrungen jahrelanger Hungersnot, Rezession und Inflation eine Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse. Auch Priester und Bischöfe wurden zu Ideologen, Mitläufern und Kriegstreibern.
Demgegenüber stehen einige bekannte Namen, zu nennen sind hier Bischof Clemens August Graf von Galen, Bischof Konrad Graf von Preysing, der Jesuit Alfred Delp oder Bernhard Lichtenberg, die zu den wichtigsten Widerstandskämpfern gegen den Nationalsozialismus zählen.
In der Diözese Rottenburg-Stuttgart sind es Namen wie der aus Stuttgart stammende Jesuitenpater Rupert Mayer, der ehemalige württembergische Staatspräsident Eugen Bolz, 1881 in Rottenburg geboren, der am 23. Januar 1945 als Mitglied des „Kreisauer Kreises“ in Berlin-Plötzensee ermordet wurde. Nicht zuletzt ist es auch Bischof Joannes Baptista Sproll, von 1927 bis zu seinem Tod am 4. März 1949 Bischof der Diözese Rottenburg.
Bischof Sproll hat unter den deutschen Bischöfen als Erster den nationalsozialistischen Machthabern öffentlich und entschieden die Stirn geboten. Er war der Einzige, der seine Diözese verlassen und ins Exil gehen musste. Umso wichtiger ist, an seinen Namen verbunden mit seinem Zeugnis und seinem Wirken in und außerhalb der Diözese Rottenburg-Stuttgart zu erinnern.
Aus seiner christlichen Grundüberzeugung heraus war Bischof Sproll ein politisch denkender und handelnder Mensch: Mehrere Male hat er, der seit 1912 Mitglied des Rottenburger Domkapitels, später Generalvikar und Weihbischof war, während des Ersten Weltkriegs bei Besuchen an der Front das Grauen des Krieges und das große Leid der Soldaten gesehen. Tief berührt und erschüttert hat er bereits in frühen Jahren als „Mitglied des Friedensbundes Deutscher Katholiken“ öffentlich in Ansprachen und Predigten für Frieden geworben.
Bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs konnte er aus seiner Exilsituation heraus nicht mehr öffentlich agieren. Was er aber in den Kriegsjahren 1915 und 1916 als seine tiefsten politischen Überzeugungen – mit biblischen Bezugnahmen und integriert in geistliche Texte – formuliert hat, das kennzeichnete später auch seine Stellung zum Nationalsozialismus und sicher auch seine Einstellung zur zweiten Weltkriegskatastrophe im 20. Jahrhundert. Es sind entgegen allen ideologischen Feindbildern der Machthaber Mahnungen an das eigene Volk. Das Volk, das Anspruch auf seine christliche Tradition erhebt und sich auf die Vorsehung Gottes für die eigene Sache und den eigenen Sieg beruft. Aber es tritt die Grundsätze seines Glaubens mit Füßen: „Gott will unser Vater sein, der gemeinsame Vater aller – und die Menschen vergessen es in ihrer Gottlosigkeit. Wir sind Brüder geworden in unserem Herrn Jesus Christus und in seinem Blute – und wir hassen einander in unserer Lieblosigkeit. Wir sollen die Hungrigen speisen – und suchen einander auszuhungern. Wir sollen einander lieben – und wir töten uns gegenseitig. Ist es nicht, als wäre die ganze sittliche Weltordnung zusammengebrochen?“
Nicht politische Schuldzuweisungen, sondern ein kollektiver Werteverfall der Gesellschaft ist für Bischof Sproll der eigentliche Grund des Kriegs. Und den sollte man, das ist der Kern seiner Bußpredigt, nicht pharisäisch beim Feind suchen, sondern zu allererst bei sich selbst. Der Christusglaube, der für Sproll auch die tiefste Motivation seiner Gegnerschaft zum Nationalsozialismus ist, ist für ihn das Fundament einer universalen Friedensordnung, die alle Völker umfasst. Die Abkehr davon führt für ihn zu einer Vergötterung des Diesseits, die alle materialistischen und nationalistischen Begehrlichkeiten begründet. Sie sind die wahren Ursachen des Krieges; „Ein lebendiger, die Welt durchdringender Christusglaube ist das Fundament des Völkerfriedens, gerade wie der Unglaube eine stete Bedrohung dieses Friedens, eine fortdauernde Ursache des Krieges ist. Der Unglaube leugnet den Himmel im Jenseits und sucht deswegen den Himmel auf Erden; er wird naturgemäß habsüchtig und genusssüchtig und weckt damit eine ganze Reihe anderer Leidenschaften. Rachgier, Ländergier, Geldgier, das sind die letzten Ursachen des Weltkrieges.“
Spätestens seit 1933 prangerte Bischof Joannes Baptista Sproll entschieden die nationalsozialistische Ideologie, den Rassenwahn und auch die Christen-, Kirchen- und Religionsfeindlichkeit des Regimes an. Am 24. August 1938 wurde Bischof Joannes Baptista Sproll aus der Bischofsstadt vertrieben, weil er, so ist dem Ausweisungsbefehl der Gestapo zu entnehmen, „eine dauernde Gefahr der Beunruhigung für die Bevölkerung“ darstellte. Letzte Ursache dafür war, nach einem bereits vorausgegangenen Verfahren wegen Volksverhetzung, seine Weigerung, 1938 an der Volksabstimmung über den Anschluss Österreichs teilzunehmen, die gleichzeitig die Zustimmung zur Wahl der NSDAP in den Reichstag bedeutete - darunter Ideologen, mit grundsätzlich feindseliger Haltung gegen das Christentum, allen voran Alfred Rosenberg.
Einen Monat nach Kriegsende, im Juni 1945, kehrte Bischof Sproll aus dem Exil, das er zum großen Teil in Bad Krumbad in der Diözese Augsburg verbracht hat, in seine Diözese Rottenburg zurück. Im Juli 1945 verfasste er einen Hirtenbrief. Er ist eines seiner letzten ganz großen Hirtenworte vor seinem Tod drei Jahre später am 3. März 1949.
Dieser Hirtenbrief kann als sein Vermächtnis gesehen werden. Den Gläubigen seiner Diözese hinterlässt er drei zentrale Sätze. Erstens: „Seid wachsam“; Zweitens: „Steht fest im Glauben“; Und schließlich als Drittes: „Seid stark“!
„Seid wachsam!“: Als Priester und Bischof war er stets darauf bedacht, mit eben dieser Wachsamkeit zu denken, reden und zu handeln. Bischof Sproll war wachsam, als er den Entschluss fasste, an Palmsonntag 1938 der Volksabstimmung über den Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich und der damit verknüpften NSDAP-Liste für den Deutschen Reichstag fernzubleiben.
Seine zweite Mahnung: „Steht fest im Glauben!“ – Glaubensstärke bewies Bischof Sproll, als fast 3.000 Demonstranten an einem Abend im Juli 1938 vor dem Bischöflichen Palais in Rottenburg zu randalieren begannen, Türen und Fenster eintraten und Feuer legten. Als einige gewaltsam das Gebäude erstürmten, fanden sie Bischof Joannes Baptista zusammen mit seinen engsten Vertrauten betend in seiner Hauskapelle.
„Seid stark!“, lautet Bischof Sprolls dritter Appell. Erst nach insgesamt sieben Jahren Exil kehrte Bischof Joannes Baptista Sproll, gesundheitlich auf das Schwerste gezeichnet, am 12. Juni 1945 in die Bischofsstadt Rottenburg und in seine Diözese zurück.
Bischof Sproll, den die Menschen bereits kurz nach dem Krieg als „Bekennerbischof“ verehrten, steht aufgrund seiner eigenen Erfahrungen für Barmherzigkeit gegenüber behindertem und versehrten Leben; er ist Mahner für ein respektvolles Miteinander der Religionen in unserem Land, und er ist Zeuge und Fürsprecher für alle, die unter den Folgen von Flucht und Vertreibung leiden, wie wir es derzeit in Afrika und hautnah an den Toren Europas an der Grenze zur Türkei und auf Lesbos erleben.
Im Frühjahr 1946 schrieb Bischof Sproll in einem Hirtenwort über die Caritas: „Ohne Liebe, ohne Caritas, gibt es keinen christlichen Glauben. Nur diese christliche Liebe kann und wird die Not der Zeit überwinden“. Auch dieses Wort des Bischofs ist brandaktuell. Gerade jetzt, in einer Zeit der globalen Pandemie, die die Herausforderung birgt, dass sich Liebe nicht durch Nähe, sondern durch Distanz zum Nächsten ausdrückt. Einer Zeit, die Einzelne zum Anlass nehmen, öffentlich Menschenwürde und das individuelle Lebensrecht gegeneinander aufzuwiegen. Einer Zeit, in der wir über unseren eigenen Sorgen – auch über der Sorge um unsere eigenen oft kleinen individualistischen Freiheiten – die unsägliche durch die Pandemie noch verschärfte Not der Ärmsten in den Ländern des Südens zu vergessen drohen. In einer Zeit der Krise, in der aber auch viel Gutes gedeiht, Achtsamkeit und Fürsorge füreinander, bei alltäglichen Dingen, wie dem Einkauf füreinander, dem gemeinsamen Gebet in der Familie oder auch online über die sozialen Medien.
Heute wie damals können wir voneinander profitieren und lernen. Deshalb ist es wichtig die Zeugnisse zu bewahren und Zeugen zu Wort kommen zu lassen, Zeugen, die nicht mehr unter uns sind, die uns aber bis heute von ihrem Glaubens- und Erfahrungsschatz profitieren lassen. Und Zeugen der Geschehnisse vor 75 Jahren. Keine Generation ist frei von zeitbedingten Urteilen und Vorurteilen. Dennoch müssen wir, die Nachgeborenen, uns der Geschichte stellen, um aus ihr für die Gegenwart und die Zukunft zu lernen.