Diakonat

Corona mit Hartz IV

Bild: Zeitschrift "Auge und Ohr"

Corona hat vieles verändert. Der Druck auf die Menschen und ihre Probleme sind gewachsen. Michael Görg berichtet von seiner Arbeit.

Als ich Anfang 2020 meine Arbeit als Diakon in der Betriebsseelsorge Stuttgart begonnen habe, konnte ich noch nicht ahnen, dass uns kurz darauf mit Corona ein ganz neues Thema beschäftigen würde. Dabei ist die Arbeit in der Betriebsseelsorge schon so sehr vielfältig.

Als Seelsorger bin ich Ansprechpartner für die Menschen mit ihren Sorgen und Nöten der Arbeitswelt. Dabei geht es um Probleme wie Mobbing, Burn-Out, Sorgen wegen einer Langzeiterkrankung oder dem drohenden Verlust des Arbeitsplatzes bei Stellenabbau oder Betriebsschließung. In diesen Fällen melden sich einzelne Mitarbeiter*innen direkt, oder der Betriebs- und Personalrat fragt eine Unterstützung für den Betrieb an. So habe ich über das Jahr 2020 hinweg die Mitarbeiter*innen der Karstadt- und Kaufhof-Filialen in Stuttgart begleitet, die von den Filialschließungen betroffen waren.

Als Diakon in der Betriebsseelsorge bin ich genauso bei Sterbefällen, gerne auch bei schönen Anlässen wie Trauungen und Taufen, gefragt. Wir feiern zusammen Gottesdienste und tauschen uns bei Bibelgesprächen aus. Dabei bringen wir besonders die Themen der Menschen in der Arbeitswelt vor Gott.

Im Bemühen um bessere Arbeitsbedingungen unterstütze ich Veränderungsprozesse in Gesellschaft und Politik. Unter anderem leiste ich Aufklärungsarbeit, was der freie Sonntag für die Menschen bedeutet und rufe auf, diesen arbeitsfrei zu erhalten. Zusammen mit der KAB und anderen Partnern setze ich mich für mehr Wertschätzung von Pflegeberufen ein. Wir starten Initiativen, um auf das Problem aufmerksam zu machen, unterbreiten Verbesserungsvorschläge und fordern auch konkrete Veränderungen.

Einen weiteren Arbeitsbereich bildet die Unterstützung von Langzeitarbeitslosen. Neben Beratung und Gesprächsangeboten bietet die Betriebsseelsorge Stuttgart den Mittwochstreff an. Hier können Erwerbslose einmal in der Woche eine sehr günstige Mahlzeit bei unserem Mittagstisch bekommen und anschließend bei einem Kaffee diskutieren oder an wechselnden Bildungsangeboten teilnehmen.

Corona als Grund für Personalabbau

Wie hat denn nun Corona die Arbeitswelt aus Sicht der Betriebsseelsorge verändert? -
Für viele Bereiche in der Arbeitswelt sind die Folgen von Corona noch gar nicht absehbar. Einige – oft große - Unternehmen nutzen Corona zu Stellenabbau und Restrukturierungen, die schon länger geplant aber unpopulär waren, und deshalb nicht umgesetzt wurden. Mit Corona ist nun ein Grund gefunden, den Personalabbau doch durchzuführen, obwohl so mancher dieser Betriebe im letzten Jahr Milliarden-Gewinne erwirtschaftet hat.
Ich mache auf solche Missstände aufmerksam und erinnere, dass der Mensch im Mittelpunkt stehen sollte und nicht die Gewinnmaximierung. Wenn die Maßnahmen trotzdem durchgeführt werden, dann begleite ich die betroffenen Mitarbeiter*innen durch die Veränderungen.

Geld reicht oft nicht für den Lebensunterhalt

Ganz anders sieht die Situation für Gastronomen, die Mitarbeiter*innen des Einzelhandels und die Künstler*innen aus. Sie sind teils in großen finanziellen Notlagen. Selbst, wenn sie Kurzarbeitergeld bekommen, sind dies nur 60% ihres vorigen Lohns. Beim ohnehin geringen Verdienst eines Kellners oder einer Verkäuferin, reicht dieses Geld allein meist nicht mehr für den Lebensunterhalt. Meine große Hoffnung ist, dass die notwendigen Beschränkungen der Coronazeit einen großen Wunsch nach genau diesen Angeboten zum Einkaufen, Essengehen und Konzertbesuch wecken. Sobald es wieder möglich ist, könnten diese Branchen einen enormen Aufschwung erleben und damit auch wieder gute Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten für die Mitarbeiter*innen ermöglichen.

Langzeitarbeitslose besonders schwer getroffen

Als besonders schwierig erlebe ich die Situation der Langzeitarbeitslosen durch die Coronabeschränkungen. Schon vor der Pandemie hat das Geld aus Hartz IV für die Betroffenen gerade so gereicht, um über die Runden zu kommen. Oft waren Hilfsjobs notwendig, um ein wenig Geld dazu zu verdienen und überhaupt die notwendigsten Lebenshaltungskosten decken zu können. In Coronazeiten sind diese Möglichkeiten für Hilfsjobs meist weggefallen. Genauso haben wegen Corona viele Hilfseinrichtungen geschlossen, in denen man sonst ein günstiges Essen bekommen konnte. Auch die Betriebsseelsorge in Stuttgart kann ihren Mittagstisch nicht in gewohnter Weise anbieten, da unsere Räume für die nötigen Abstände einfach zu klein sind. Wir haben uns als Team Gedanken gemacht, wie wir trotzdem für die Menschen da sein können und unsere Köchin bietet seit Beginn der Coronabeschränkungen Lunchpakete mit frisch gekochtem Essen zum Mitnehmen an.

Flaschensammeln und Videokonferenzen gegen "Budenkoller"

Eine weitere Schwierigkeit liegt für die Erwerbslosen in den weggebrochenen Kontaktmöglichkeiten. Viele leben in sehr kleinen Wohnungen, um bei den hohen Mietpreisen in Stuttgart überhaupt die Miete zahlen zu können. Wie Thomas*, der in einer 11 qm kleinen Wohnung lebt, in die nicht einmal ein Tisch hineinpasst. Er freut sich immer, wenn er mittwochs zu uns in den Treff kommen kann und aus seinen engen 4-Wänden herauskommt. Diese Möglichkeiten fallen durch die zahlreichen Einrichtungsschließungen jetzt weg. Viele Menschen halten in der Pandemiezeit Kontakt über Videokonferenzen, um keinen „Budenkoller“ zu bekommen. Die Erwerbslosen haben meist keine IT-Ausstattung, um an solchen Videokonferenzangeboten teilzunehmen. Es gibt nur die Möglichkeit sich persönlich zu besuchen oder zu telefonieren. Anton* macht jeden Tag seine Runde zum Flaschensammeln aus den öffentlichen Mülleimern. Wie er sagt, geht es ihm dabei nicht nur um das Geld, sondern auch darum „raus zu kommen und andere Menschen zu treffen“. Gerade jetzt macht er sich immer noch jeden Tag auf den Weg, auch wenn die Pfandausbeute wegen weniger Menschen in der Öffentlichkeit kleiner ausfällt.

Zu der Frage der Begegnungsmöglichkeiten und für Gelegenheiten einmal „raus zu kommen“ haben wir uns in der Betriebsseelsorge Gedanken gemacht. Zusammen mit unserem Sozialarbeiter biete ich Ausflüge an, wo es möglich ist, sich zu begegnen und trotzdem den nötigen Abstand einzuhalten. So haben wir z.B. eine botanische Führung durch den Kurpark mit anschließendem Picknick gemacht oder das Naturkundemuseum besucht. Gute Gespräche ergeben sich auch bei der Abholung der Lunchpakete oder einem gemeinsamen Spaziergang zum Seelsorgegespräch. Einige unserer Besucher*innen lassen sich durchaus auch eine Stunde Zeit für ihre Essensabholung und genießen die Zeit außerhalb ihrer kleinen Wohnung. Natürlich mit Maske und Abstand.

Um nach einem Jahr in der Betriebsseelsorge Bilanz zu ziehen: Für mich ist Betriebsseelsorge Kirche in der Welt. Hierbei kann ich fast jeden Tag den Armen unserer Welt begegnen und sie hoffentlich - besonders in Coronazeiten - über einige Steine auf ihrem Lebensweg begleiten und ihnen neue Hoffnung geben.

* Name aus Datenschutzgründen geändert

Diakon Michael Görg

Betriebsseelsorger in Stuttgart

Der Artikel ist entnommen aus dem Heft „Auge und Ohr“, der Zeitschrift des Rates der Ständigen Diakone in der Diözese Rottenburg-Stuttgart, Rottenburg, 2021. Das ganze Heft ist kostenlos zu beziehen unter expedition-drs.de.

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