Pfarrer Herrmann würde sofort darauf hinweisen, dass die Betriebsseelsorge viele Gesichter hat, denn sein Team ist ihm sehr wichtig. Dennoch sagt er nun bald „Auf Wiedersehen“ oder besser "Adiós". Denn Pfarrer Herrmann geht als Fidei-Donum-Priester für die Diözese nach Argentinien. Es sei Zeit, etwas Neues zu wagen, sagt er im Interview. Darin blickt er auf seine Zeit als Leiter der Betriebsseelsorge zurück, spricht über seine Vorfreude auf Lateinamerika und was ihn mit diesem Teil der Welt seit langem verbindet, und er erzählt, mit welchen Hoffnungen er die Kirche hierzulande zurücklässt.
Pfarrer Herrmann, Anfang des kommenden Jahres widmen Sie sich einer neuen Aufgabe in Argentinien. Was genau werden Sie in der Diözese Santiago del Estero machen?
Die Diözese Santiago del Estero liegt im Nordwesten von Argentinien – rund 1.000 Kilometer von Buenos Aires entfernt. Dort werde ich einen seelsorgerlich-pastoralen Auftrag haben – voraussichtlich in einer Gemeinde. Aber wo genau ich eingesetzt werde, das steht noch nicht fest. Die ersten zwei bis drei Monate werde ich die Arbeit dort an unterschiedlichen Orten kennenlernen und natürlich auch die Herausforderungen, denen sich unsere argentinische Partnerdiözese stellen muss. Danach entscheidet sich, welche konkrete Aufgabe zu mir am besten passt. Mit 55 Jahren bringe ich viele Erfahrungen mit, die ich hier bestmöglich einbringen möchte. Zunächst für drei Jahre, aber mit der Option, insgesamt fünf Jahre dort zu bleiben.
Sie waren schon während Ihres Studiums in Lateinamerika – konkret in Mexiko. Insofern haben Sie vielleicht eine Vorstellung, was Sie in Argentinien erwartet?
Man kann die Strukturen in Argentinien nicht mit denen hier oder in Mexiko vergleichen. Allein schon die Ausmaße zeigen dies: Die Provinz Santiago del Estero ist so groß wie Bayern und Baden-Württemberg zusammen, hat aber nur eine Million Einwohner. Es gibt dort Regionen, in denen pro Quadratkilometer nur zehn Menschen leben. Zudem gibt es ein starkes Stadt-Land-Gefälle. Allein in der Hauptstadt Santiago del Estero leben um die 250.000 Einwohner. Auch die Kultur ist ganz anders als in Deutschland oder in Mexiko. Mexiko ist in vielen Regionen sehr stark von den indigenen Kulturen geprägt. Argentinien ist seit jeher ein Einwanderungsland; viele Menschen dort haben italienische oder spanische Wurzeln. Der ländliche Teil der Diözese ist von Landwirtschaft geprägt und damit auch durch die großen Veränderungen, die es in diesem Bereich in den vergangenen Jahrzehnten gegeben hat – beispielsweise den großflächigen Anbau von Soja für den Export.
Der Bischof Santiago del Estero, Vicente Bokalic Iglic, hat mir im Gespräch von der hohen Inflation berichtet. Der Staat schrammt seit langem stetig am Bankrott vorbei, die massiven Einschnitte wegen Corona haben die große soziale Schieflage noch verschärft. So leben 60 Prozent der Menschen in der Diözese unterhalb der Armutsgrenze. Viele Menschen ziehen in die Stadt und arbeiten hier vorwiegend im informellen Sektor. Unter der Jugend herrscht eine große Perspektivlosigkeit.
Das sind die Themen, die die Kirche und die Priester, das sind gerade einmal 65 für die gesamte Diözese, bewegen. Umso mehr wird dort auf die Mitarbeit von Ehrenamtlichen gesetzt, um das pastorale wie soziale Leben zu gestalten. Auf die Zusammenarbeit mit ihnen allen freue ich mich. Die Kirche, so Bischof Bokalic, muss in Argentinien ganz verstärkt mit der Lebenssituation der Menschen um- und auf sie eingehen. Sie muss genau dort sein, wo sich das Leben der Menschen abspielt. Mit ihnen das Leben teilen.
Sie haben 15 Jahre die Betriebsseelsorge in Württemberg geleitet. Was hat Sie dazu bewogen, nun die Zelte hier abzubrechen?
Die Arbeit für die Betriebsseelsorge war für mich sehr sinnstiftend und hat mir viel Freude bereitet. Wir waren als Team in einer sich stetig verändernden Arbeitswelt immer sehr innovativ unterwegs.
Meinen Kolleginnen und Kollegen habe ich viel zu verdanken. Sie haben mir große Wertschätzung und Kollegialität geschenkt.
Aber nach 15 Jahren ist es gut, wenn nun jemand anderes diese Aufgabe übernimmt. Und es ist besser, einen solchen Stellenwechsel anzugehen, bevor man müde wird oder die Leute sagen: „Komm, es wird Zeit!“
Zudem hatte ich schon immer eine Bindung an die lateinamerikanische Kirche. Schließlich habe ich in Mexiko mein theologisches Auslandsjahr gemacht. Über all die Jahrzehnte habe ich Kontakte zur lateinamerikanischen Kirche gepflegt und so den Wunsch, einmal dorthin als Seelsorger zu gehen, immer in mir getragen. Jetzt kann ich die Chance ergreifen, dass der Wunsch zur Realität wird.
Wenn Sie auf die vergangenen Jahre in der Betriebsseelsorge zurückblicken, welcher Moment ist Ihnen ganz besonders in Erinnerung geblieben?
Ich habe viele Erinnerungen an diese Zeit. Gleich zu Beginn habe ich als Mitarbeiter eines Hallenmeisters bei der Neuen Messe in Stuttgart mitgearbeitet, um die Arbeit von abhängig Beschäftigten kennenzulernen. Denn es ist Teil des Selbstverständnisses der Betriebsseelsorge, dass wir immer wieder als ungelernte Mitarbeiter im Rahmen von Betriebseinsätzen in Betrieben mitarbeiten. Diese Begegnung im Arbeiten mit den Menschen erzählt uns ganz viel über deren Lebenswirklichkeit. Die gemeinsame Mittagspause kommt dabei manchmal durchaus dem Charakter der Eucharistiefeier nahe: das Brot teilen, über das Leben sprechen und dieses deuten, sich gegenseitig stärken und ermutigen.
Erinnern Sie einen Menschen besonders, für den Sie sich als Betriebsseelsorger eingesetzt haben?
Ich erinnere mich an einen Arbeitnehmer aus Kroatien, der auf einer Baustelle im Landkreis Esslingen im Einsatz war. Eines Tages fiel er vom Gerüst und kam querschnittsgelähmt ins Krankenhaus. Als er dort nach seiner Krankenversicherung gefragt wurde, stellte sich heraus, dass er gar nicht als Arbeiter angestellt war, sondern dass seine „Chefs“ auf ihn ein Gewerbe angemeldet hatten. Das wusste er aber nicht. Er lag also im Krankenhaus ohne jede Absicherung und stand buchstäblich vor dem Nichts.
Ich habe umgehend Kontakt zu ihm aufgenommen; er war verheiratet, kurz davor, zum zweiten Mal Vater zu werden. Er war gelähmt, musst sich damit abfinden, dass er fortan im Rollstuhl sitzt, und hatte keine Möglichkeit, seine Familie finanziell zu unterstützen. Zusammen mit einer Kollegin des Beratungsnetzwerkwerks Faire Mobilität haben wir uns dann daran gemacht, seine Ansprüche arbeitsrechtlich durchzusetzen und ihm auch psychisch und seelsorgerlich beizustehen. Er wurde schlichtweg aufs Kreuz gelegt. Dank der Hilfe eines sehr engagierten Tübinger Anwalts zogen wir drei Jahre lang vors Sozial- und Arbeitsgericht. All diese Jahre lebte er unter dem Damoklesschwert, am Ende mit nichts dazustehen. Aber wir hatten Erfolg: Sein Arbeitnehmerstatus wurde gerichtlich anerkannt. Damit hatte er Ansprüche aus der Unfallversicherung und erhält seitdem eine Unfallrente. Heute lebt er mit seiner Familie in Stuttgart und wir sind noch immer in Kontakt. Ich werde ihn auch nochmal besuchen, bevor ich nach Argentinien reise.
Warum erinnern Sie sich gerade an diesen Fall, Pfarrer Herrmann?
Mir ist damals eine zentrale Dimension von Betriebsseelsorge ganz deutlich geworden:
Wir richten Menschen, die in der Arbeitswelt unter die Räder kommen, wieder auf und machen ihnen Mut, damit sie nicht aufgeben. Das ist für mich konkrete Auferstehungsarbeit.
Und parallel gibt es die betriebliche Dimension, indem wir gegen die Struktur der Ausbeutung in der Arbeitswelt aktiv vorgehen.
Welchen Herausforderungen wird sich das Team um Ihren Nachfolger, Matthias Schneider, in Zukunft stellen müssen?
Eine große Herausforderung ist, dass immer häufiger die Verortung von Arbeit verloren geht. Schon in der Bezeichnung „Betriebsseelsorge“ steckt ja der Gedanke, dass es einen Betrieb gibt, also einen konkreten Ort, an dem die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zusammenkommen. Immer mehr gibt es aber mobiles Arbeiten, Stichworte sind da Homeoffice, aber eben auch Paketboten oder Lieferdienste, Beschäftigte in der digitalen Plattformökonomie. Hier kennen die Kollegen sich oft nur per App, bekommen über diese ihren Arbeitsauftrag und sehen sich nicht mehr in real.
Hier stellt sich die Frage: Wie erreichen wir als Betriebsseelsorge Menschen, die mobil arbeiten? Und was kann die Betriebsseelsorge für sie bedeuten? Auch systemisch hat die Zunahme von mobilem Arbeiten Auswirkungen. Wie organisiere ich beispielsweise Solidarität unter Menschen, die sich gar nicht mehr kennen?
Eine weitere Herausforderung ist die Weiterentwicklung einer migrationsfreundlichen Betriebsseelsorge. Der deutsche Arbeitsmarkt benötigt jährlich eine Zuwanderung von 400.000 Arbeitskräften. Wie erreichen wir also Menschen, die kein Deutsch sprechen, die aus anderen religiösen und kulturellen Zusammenhängen kommen? Das geht nicht so ohne Weiteres und da sind gute Kooperationspartner unabdingbar.
Mit welchen ganz persönlichen Hoffnungen gehen Sie nach Argentinien, Pfarrer Herrmann?
Ich erhoffe für mich als Priester eine gute Lebens- und Arbeitszeit in der argentinischen Partnerdiözese und wünsche mir, mit den Menschen dort in eine gute Beziehung zu kommen. Und natürlich erhoffe ich mir Lebensglück und die Erfüllung dessen, was mir als Mensch und Seelsorger wichtig ist.
Mit welchen Hoffnungen lassen Sie die katholische Kirche in Deutschland zurück?
Das ist eine schwierige Frage. Ich überlege mir oft, ist das Fass gerade halb voll oder ist es halb leer? Ich nehme wahr, dass es eine große Sensibilität für die Herausforderungen gibt, vor der die Kirche steht. Es ist auch nicht so, dass nichts passiert und dass man nicht die Zeichen der Zeit erkannt hätte. Daher würde ich sagen: Das Glas ist halb voll und daraus schöpfe ich auch Hoffnung.
Ich wünsche mir, dass der ständige Prozess der Erneuerung und Kirchenentwicklung mutig vorangetrieben wird und dass noch viel experimenteller gearbeitet wird. Was mir sehr gefällt, sind beispielsweise die anderen Zugänge in kirchliche Dienste, die bei uns in der Diözese mit den „Stellen für andere Berufe“ geschaffen wurden. Nicht jede Stelle bei uns muss zwangsläufig mit einem Theologen abgedeckt sein. Unsere Betriebseelsorgerinnen und -seelsorger mit ihrem unterschiedlichen beruflichen Hintergrund sind dafür ein sehr gutes Beispiel.
Auf der anderen Seite nehme ich natürlich wahr, dass es viele verkrustete Strukturen gibt. Gerade im Hinblick auf Macht und Zugang in kirchliche Dienste muss sich noch viel verändern! Sehr viel!