Das neue Ehrenamt ist vielfältig, kurzfristig und digital

Prof. Dr. Paul-Stefan Roß über sich wandelndes Engagement in Kirche und Gesellschaft – Internationaler Tag des Ehrenamts am 5. Dezember

Die Zahl der Menschen, die sich in Deutschland freiwillig engagieren, nimmt weiter leicht zu – der Umfang des Engagements allerdings wird dabei gleichzeitig geringer. Laut Ergebnis des jüngsten Freiwilligensurveys engagierten sich 2014 rund 49 Prozent aller Baden-Württemberger. Oftmals ist davon vor Ort in Kirchengemeinden, Gruppen oder Verbänden wenig zu spüren. Viele Engagierte klagen darüber, dass sich niemand mehr finden lässt oder der Nachwuchs fehlt. Sie fühlen sich überfordert und häufig als „Lückenbüßer“. Aktuell sind rund 150.000 Katholiken in den Gemeinden der Diözese ehrenamtlich im Einsatz, 63 Prozent davon sind weiblich.

Zum internationalen Tag des Ehrenamts am 5. Dezember nimmt der Theologe und Sozialarbeiter Prof. Dr. Paul-Stefan Roß (55) die Entwicklung von freiwilligem Engagement in den Blick. Im Interview spricht er über veränderte Formen im Engagement, über die notwendige Auseinandersetzung von Kirchengemeinden mit ihrem Verständnis von Ehrenamt sowie über den Zusammenhang von zivilgesellschaftlichem Engagement und Staatsform. 

Herr Professor Roß, Menschen engagieren sich heute anders als noch als vor 5, 10 oder gar 20 Jahren. Sie sprechen vom Ehrenamt 4.0. – wohin entwickelt sich das Ehrenamt der Zukunft? 


Prof. Dr. Paul-Stefan Roß: Zunächst möchte ich den Begriff richtig stellen – ich spreche bewusst nicht vom „Ehrenamt 4.0“, sondern vom „Engagement 4.0“. Der Begriff Ehrenamt hat einen bestimmten Klang, er kommt aus einer bestimmten Zeit mit bestimmter Intention. Er spielt nach wie vor eine Rolle, taugt aber nicht mehr als Dachbegriff. Mit der kommunalen Selbstverwaltung und der Gründung der Vereine im 19. Jahrhundert ist das klassische Ehrenamt entstanden, quasi die Version 1.0. Als „das neue Ehrenamt“ hat man das freiwillige Engagement seit den 80er Jahren bezeichnet und vom „Bürgerschaftlichen Engagement“ sprach man seit Mitte der 90er Jahre. Und gerade sind wir, denke ich, auf dem Weg zum Engagement 4.0, aber noch nicht angekommen. In Kurzform würde ich den Charakter des aktuellen gesellschaftlichen Engagements mit den Stichworten „vielfältig“, „kurzfristig“ und „digital“ beschreiben. Was ich sagen will: Engagement ist immer Kind seiner Zeit. 


Wie zeigt sich ein Engagement 4.0 konkret? Und sind die anderen, sogenannten alten/klassischen Formen des Ehrenamts jetzt out und überholt? 


Roß: Nein, die verschiedenen Typen des Engagements existieren nebeneinander und so wird es auch bleiben. Es gibt nach wie vor die Hoch-Engagierten in Verein, Kirche oder Politik. Im Wandel von Engagement ist das Ehrenamt ein Strang, den wir brauchen – aber es gibt auch neue Wege und Formen. Das Engagement wird insgesamt vielfältiger. Engagement geschieht längst nicht mehr ausschließlich in Organisationen wie in Vereinen, Verbänden oder Kirchengemeinden, sondern häufig projektbezogen oder selbstorganisiert wie beispielsweise im politisch motivierten Stadtteil-Engagement. Menschen kommen vermehrt über ein Thema zum Engagement - und weniger über die Organisation. Noch ein Beispiel: Junge Männer engagieren sich in der Fahrradwerkstatt für Geflüchtete der Kolpinggruppe. Es wäre falsch zu erwarten, dass diese Männer dann Mitglied im Kolpingverband werden oder gar auf Delegiertenversammlungen gehen. Sie kommen, weil ihnen die gemeinsame Arbeit in der Werkstatt Spaß macht. Und Herumwerkeln ist nun mal was für Männer! 


Auch die Veränderung der Arbeits- und Lebensbedingungen in Deutschland und die Prägung durch die Digitalisierung beeinflusst die Formen des Engagements. In der digitalen Welt ist beispielsweise eine viel schnellere Mobilisierung möglich, viele Arbeitsabläufe werden vereinfacht. Beispielsweise kann heute auch der Kassier die Buchhaltung für seinen Heimatverein machen, wenn er beruflich bedingt nicht mehr vor Ort ist. Alles in allem habe ich allerdings den Eindruck, dass die großen Organisationen immer noch dazu tendieren, die 1.0-Version von Engagement als Maß der Dinge zu sehen und die Weiterentwicklung nicht als Chance, sondern als Problem wahrnehmen. 
Sind denn die Kirchen schon bereit für das Engagement 4.0.? 


Roß: Kirche muss sich mit zwei Dingen auseinandersetzen. Ist sie tatsächlich bereit für ein Engagement, wie es sich heute darstellt: kurzfristig, vielfältig, digital geprägt – oder will sie bei einem kleinen, klassischen Ausschnitt aus dieser Landschaft bleiben? 
Bei Kirche stellt sich zusätzlich die theologische Frage: wollen wir eigentlich Vielfalt? Auch Vielfalt unter jenen, die sich für und in der Kirche engagieren? Welches sollen die Gruppen sein, die wir stärken wollen: Nur die katholisch-kirchliche Kerngruppe oder alle Menschen guten Willens? Hier geht es um weit mehr als um Projekte, hier geht es um eine Grundhaltung und das Kirchenbild. Wenn man diese Frage entschieden hat in Richtung Breite und Weite, dann kommen die nächsten Entscheidungen. 
Ein künftiges Engagement unter dem Dach der Kirche wird ein hoch dezentrales und selbstorganisiertes sein müssen. Es wird immer wenig zentral steuerbar sein – ein spannender Contra-Punkt zur allgegenwärtigen Zentralisierungstendenz in der Kirche. Die Diözese Rottenburg-Stuttgart setzt mit ihrem Konzept „Kirche am Ort – Kirche an vielen Orten“ hier an der richtigen Stelle an. Von allen hierarchischen Steuerungsphantasien kann sich Kirche endgültig verabschieden. Sie sollte dem Heiligen Geist etwas zutrauen – wo zwei oder drei im richtigen Bewusstsein etwas tun, da … 


Stimmt es, dass in Staaten, in denen das ehrenamtliche Engagement stark ist, auch die Demokratie stark ist? Wenn ja, worin liegt der innere Zusammenhang? 


Roß: Ja, ich sehe einen Zusammenhang, aber der ist nicht so einfach plakativ linear. Denn: wir sehen auch, dass sich Leute aus Enttäuschung über das etablierte politische System eher in kleine Initiativen begeben. Es kann also durchaus sein, dass es eine muntere Initiativen-Landschaft gibt, aber gleichzeitig das offizielle politische System entkernt wird. Die Flucht in die kleine Initiative kann also auch zur Abkehr vom großen repräsentativen System führen. Dennoch: je korrupter und totalitärer die Systeme desto problematischer ist es mit dem zivilgesellschaftlichen Engagement. 

Sie kennen sie wahrscheinlich die Klagen vor Ort, ob in den Pfarreien, Einrichtungen, aber auch bei den Vereinen, - wir haben keinen Nachwuchs mehr – viele haben das Gefühl, immer weniger müssen noch mehr Aufgaben erfüllen. Was antworten Sie diesen Menschen ganz direkt? 

Roß: Ich sage erstens: Es macht keinen Sinn, sich dem gesellschaftlichen Wandel entgegen zu stemmen – erkennt die Chancen des Wandels, nehmt die mit ihm verbundenen Herausforderungen an und jammert nicht über das, was früher mal war, aber nicht mehr ist. Zweitens sage ich: Versucht Euch von Engagementformen, die ihre Zeit gehabt, sich aber jetzt überlebt haben, in Ehren zu verabschieden. Zugespitzt: Auch freiwilliges Engagement benötigt eine gute Sterbekultur. Einen versöhnten Abschied, bei dem nicht das Gefühl zurück bleibt, gescheitert zu sein, nur weil neue Leute die Dinge neu anpacken. Wo alles in stetem Wandel ist, kann Engagement nicht stabil bleiben wie zu Großvaters Zeiten. Neue, passendere Formen des Engagements zu finden ist nur möglich, wenn Altes beerdigt wird. So gab es in Deutschland noch nie so viele Vereine wie heute – aber sie existieren nicht mehr so lange. 

Wo haben Sie sich persönlich zuletzt ehrenamtlich engagiert und wo würden Sie sich gerne einbringen, wenn Sie die Möglichkeit dazu hätten? 

Roß: Zuletzt habe ich mich beim Aufbau eins Freundeskreises für Flüchtlinge in Bad Cannstatt engagiert. Des Weiteren nehme ich aktuell noch zwei „Edel-Ehrenämter“ wahr, wie ich sie nenne, und sitze im Aufsichtsrat zweier Stiftungen. Wo ich mich sehr gerne einmal einbringen würde, wäre in einem Stadtteil-Bauernhof – die Verbindung der Themenfelder Eltern, Kindern und Tiere spricht mich an. Ein Projekt das mich beeindruckt und wo ich mir ebenfalls eine Mitarbeit vorstellen könnte ist das Haus Emmaus im Palästinensergebiet: Dominikanerinnen kümmern sich unter einem Dach sowohl um die Pflege alter Menschen wie auch um die Ausbildung junger Pflegeschülerinnen. In dem oft so deprimierenden Israel-Palästina-Konflikt eröffnet dieses Projekt trotz allem eine Perspektive, verbindet Jung und Alt und verbindet Religionen. 

Die Fragen stellte Manuela Pfann 

Zur Person
Professor Dr. Paul-Stefan Roß (55) ist seit 2005 Professor für Sozialarbeitswissenschaft an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg (DHBW) in Stuttgart. Er beschäftigt sich seit rund 25 Jahren mit der Entwicklung von freiwilligem Engagement. 


Weitere Informationen
Zur Entwicklung und Förderung von ehrenamtlichem Engagement in Kirchengemeinden hat die Diözese Rottenburg-Stuttgart mit Beginn des Jahres 2018 zehn Projektstellen eingerichtet. Aufgabe der Ehrenamtskoordinatoren ist es, im Rahmen des Prozesses „Kirche am Ort – Kirche an vielen Orten“ beispielhafte Konzepte für ein zeitgemäßes Engagement in Kirche und Gemeinde zu erarbeiten. Das Ziel dabei lautet: weg vom Langzeit-Ehrenamt, das die Strukturen der Kirchengemeinden bedient, hin zu einer zeitlich begrenzten, charismenorientierten Ehrenamtsförderung, bei der die Potentiale und Talente einer Person im Vordergrund stehen. 
Projektstellen sind an folgenden Orten eingerichtet: 
Mutlangen; Winnenden; Horb; Ehingen; Affaltrach/Obersulm; Künzelsau; Pliezhausen; Giengen/Brenz; Kirchheim/Teck; Tübingen 

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