Bei einer Veranstaltung im Haus der katholischen Kirche in Stuttgart berichtete Stolz, die seit 2014 die Kommission sexueller Missbrauch (KsM) in der Diözese Rottenburg-Stuttgart (DRS) leitet, von ihren Erfahrungen im Umgang mit Betroffenen und Tätern und von so genannten Bystandern – also "Zuschauer:innen" aus dem Umfeld.
Großböltig, der im Bistum Münster eine Studie zum sexuellen Missbrauch leitete, las unterschiedliche Abschnitte aus seinem Buch „Die schuldigen Hirten“ vor, in dem er die Geschichte von Betroffenen, Tätern und Vertuschern des Missbrauchsskandals nachzeichnet. Der Historiker benannte für die Katholische Kirche spezifische Bedingungen, die sexuellen Missbrauch beförderten:
- den Klerikalismus,
- die Struktur der Institution Kirche
- und ihre Doppelbödigkeit in der Sexualmoral.
Zu den grundlegenden Mechanismen des Verheimlichens und Verschweigens gehörte es, dass die Täter die Opfer unter Druck setzten, damit diese sich nicht offenbaren würden. Eine Form, um sich aus diesem Teufelskreis zu befreien, sei es, wenn die Opfer über ihren Missbrauch sprechen würden. Ihr Leid müsse anerkannt und wieder gut gemacht werden. „Wir müssen den Opfern Gehör und Glauben schenken“, forderte er.
Opfer empfinden tiefe Scham - Über Leid zu sprechen, ist riesiger Kraftakt
Stolz berichtete, dass sich im Umgang der Kirche mit Fällen sexuellen Missbrauchs viel getan habe – wenn auch sehr langsam. „Viele Fälle, die uns in der KsM berichtet werden, stammen aus dem letzten Jahrhundert. Manche Opfer erzählen von ihrem Leid erst im fortgeschrittenen Alter und haben davor noch nie darüber gesprochen. Sie haben eine tiefe Scham empfunden, die die Täter ihnen vermittelt haben.“ Gleichwohl würden viele Opfer sagen, dass man ihnen früher nicht geglaubt hätte. „So was sagt man nicht über den Pfarrer – das hören wir oft aus früheren Zeiten“, so Stolz.
Nunmehr seit das Thema Missbrauch aber seit rund 15 Jahren ständig präsent. Die Präventionsbemühungen der DRS zeigten zudem Wirkung. „Die Menschen schauen mehr hin, sagen schneller etwas. Wir werden in der KsM viel öfter mit Grenzverletzungen konfrontiert. Diese werden eher wahrgenommen und gemeldet“, erläutert die Vorsitzende der Kommission. Es habe sich auch in Verfahrensweisen und Vorschriften viel geändert. So sei in den kirchlichen Vorschriften heute klar geregelt, wer etwas sehe, müsse das melden. Für die Betroffene bleibe es ein riesiger Kraftakt, über ihr Leid zu sprechen.
Der Historiker Großbölting erläuterte, dass die Studie aus dem Bistum Münster die Praxis des immer wieder auf andere Stellen versetzten Missbrauchstäters offenbart habe. Hier hätten Priester über Priester entscheiden. Ein Grund für den Versuch des Vertuschens durch eine Versetzung sei daher "die Kumpanei untereinander" gewesen; ein anderer, dass man damit das Sakrament der Priesterweihe hätte schützen wollen. In der Konsequenz seien den Tätern durch die Versetzung immer neue Opfer zugeführt worden.
Staat ist stärker gefordert - Fürsorgepflicht für Kinder nachkommen
Der Professor bemängelte auch die „hinkende Trennung von Kirche und Staat“ in Deutschland. Diese nehme zwar ab, aber in der Vergangenheit habe der Staat zu nachlässig auf die Probleme in der Kirche geschaut. Der Staat müsse alle Institutionen zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs verpflichten – dieser Forderung von Johannes-Wilhelm Rörig, der bis 2020 unabhängiger Beauftragter für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs der Bundesregierung war, schloss sich auch Monika Stolz an. Diese Verpflichtung würde dann auch die Kirche betreffen. So würde der Staat seiner Fürsorgepflicht gegenüber Kindern nachkommen; dabei müsse er die Aufarbeitung kontrollieren und Kriterien vorgeben.
Für Großbölting ist klar: Die Kirche kann die Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs nicht selbst übernehmen. Er verwies auf Irland, wo bereits im Jahr 2000 der Staat diese Aufgabe in die Hand genommen habe. „Es wäre heilsam für die Kirche, wenn staatliche Strukturen stärker in Aufarbeitung einsteigen würden“, so der Historiker.
Unrecht als Unrecht benennen und Betroffene in den Blick nehmen
Stolz forderte jeden einzelnen und jede einzelne auf, kein Bystander zu sein, sondern die Betroffenen in den Blick zu nehmen und das Unrecht als Unrecht zu benennen. Jeder müsse Verantwortung übernehmen.
„Da bleiben ist besser, als fortzulaufen“, so die ehemalige baden-württembergische Arbeits- und Sozialministerin auf die Frage, warum sie Mitglied in der Katholischen Kirche bleibe. Die Kirche sei für sie ein Stück Heimat. Über die Thematik des Missbrauchs werde vieles nicht mehr gesehen, was in dieser Kirche, in den Gemeinden, in der Caritas an Gutem geschehe. Sie wolle, dass die Kirche eine Institution werde, in der Kinder sicher aufwachsen können und dass diese Kirche glaubwürdig sei.
Großbölting, der zwar noch Mitglied in der Katholischen Kirche ist, sprach davon, dass es für ihn schwieriger sei, in der Kirche zu bleiben. Vielmehr empfinde er sich als „religiös heimatlos“.
Die Veranstaltung wurde von Roland Weeger, Leiter des Katholischen Bildungswerkes Stuttgart, und Angela Schmid, Dekanatsreferentin und Theologin des Katholischen Stadtdekanats Stuttgart, moderiert.