Kultur

Den Reichtum von 1300 Jahren in die Zukunft hinübertragen

Der Bürgermeister steht auf dem Platz vor dem Rathaus.

Das Rathaus (r.) des Reichenauer Bürgermeisters Dr. Wolfgang Zoll befindet sich genau neben dem Münster in einem ehemaligen Klostergebäude - Foto: DRS/Waggershauser

Der Reichenauer Bürgermeister Wolfgang Zoll spricht über das Jubiläum und die Verbindung von der Insel zur Diözese.

Dass die Insel Reichenau weit mehr ist als Gewächshäuser und Gemüse, dürfte den meisten bekannt sein. Das Münster - seit kurzem Basilica Minor - und die alten Kirchen in Oberzell und Niederzell sind Teil des UNESCO-Weltkulturerbes. Obwohl die Insel heute zur Erzdiözese Freiburg gehört, haben dort auch Heilige und Selige aus dem Gebiet der Diözese Rottenburg-Stuttgart gewirkt, weiß Dr. Wolfgang Zoll. Er ist in Stuttgart geboren und war Diözesanpriester. Die Reichenauer wählten ihn 2009 und 2017 zum Bürgermeister. Weshalb dem Theologen dieses Amt Freude macht, erzählt er im Interview.

Herr Zoll, eine Verbindungslinie von der Insel Reichenau in das Gebiet der heutigen Diözese Rottenburg-Stuttgart ist ja Hermann der Lahme. Wer war das?

Wir haben ihn an seinem 1000. Geburtstag im Jahr 2013 groß gefeiert, als auch der Kontakt zu seinem Herkunftsort Altshausen da war. Er gehört zu den Universalgelehrten des Mittelalters. Er hat sich mit den sieben freien Künsten beschäftigt, der damalige wissenschaftliche Kanon. Er hat unter anderem Kalenderberechungen angestellt und es gibt von ihm die sogenannte Hirtensonnenuhr.

Wodurch hob sich dieser Mönch der Reichenau von anderen Gelehrten seiner Zeit ab?

Er konnte die Wissenschaften in guter Weise miteinander verknüpfen. Er galt schon zu Lebzeiten als Genie. Ihm wird auch das Salve Regina zugeschrieben. Der Hymnus wird bis heute bei großen Gottesdiensten hier gesungen und die Leute können das auf Latein auswendig.

Stand seine schwere körperliche Behinderung der Karriere nicht im Weg?

Er war wirklich stark gelähmt. Ob er auch eine Chance gehabt hätte, wenn er nicht dem Hochadel angehört hätte, wissen wir nicht. Er konnte jedenfalls sein Handicap kompensieren durch überragende Intelligenz und Weisheit.

Gab es noch andere Größen aus dem heutigen Württemberg, die mit der Reichenau in Verbindung stehen?

Der Heilige Wolfgang ist hier in der Klosterschule ausgebildet worden. Er stammt aus Pfullingen und feiert in diesem Jahr seinen 1100. Geburtstag. Über Stationen in Würzburg, Trier und Einsiedeln bekam er einen Missionsauftrag in Ungarn und Prag. In Regensburg wurde er schließlich Bischof. Es waren hier aber auch noch weitere bedeutende Gestalten wie der Heilige Meinrad von Sülchen und andere, deren Herkunftsorte wir nicht kennen oder die nicht aus dem Schwäbischen stammen.

Die Bedeutung der Insel Reichenau zeigt sich auch darin, dass sie seit dem Jahr 2000 UNESCO-Weltkulturerbe ist. Was bedeutet das?

Das Weltkulturerbe bezieht sich nicht nur auf die drei Kirchen, die sich von über 20 Kirchen erhalten haben, sondern auf die ganze Kulturlandschaft der Insel. Seit 1300 Jahren gestalten Menschen den gesamten Raum kulturell, sie betreiben Landwirtschaft - ursprünglich Weinanbau, heute Gemüsebau. Und das Weltkulturerbe bezieht sich auch auf die Traditionen und Feiertage.

An manchen Tagen ticken die Uhren hier ja etwas anders als im Rest Deutschlands ...

Das ist altes Herkommen. Die Inselfeiertage haben mit den Patrozinien des Münsters zu tun, also Mariä Himmelfahrt am 15. August und das Fest des Evangelisten Markus am 25. April. Und dann ist am Montag nach Pfingstmontag das Heilig-Blut-Fest im Gedenken an die Rückkehr der Reliquie im 18. Jahrhundert. Sie war während des 30-jährigen Krieges ausgelagert. An diesen drei Tagen ist auf der Insel alles geschlossen und dann finden die Prozessionen statt. Die Leute hier verbinden ganz stark ihre Identität damit.

Welche Rolle spielen die berühmten Handschriften aus dem Kloster?

Dieses Weltdokumentenerbe ist der einzige Teil, der nicht hier vor Ort ist. Er ist im Moment in Konstanz im archäologischen Landesmuseum zu sehen. Da sind einige der Handschriften sichtbar. Die hätten wir auf der Insel nicht mit einem vertretbaren Aufwand sichern können. Wir haben aber die Schatzkammer neu hergerichtet, die Klostergärten angelegt und das Museum in Anlehnung an die Landesausstellung neu gestaltet. Und wir haben ein großes Rahmenprogramm dieses Jahr auf der Insel.

Da ist der Bürgermeister sicher oft gefragt. Was macht für Sie diese Stelle auf der Reichenau interessant?

Da ist zum einen mein Interesse an der Kirchengeschichte. Zum anderen sind viele andere Kommunen auf der Suche nach einem Alleinstellungsmerkmal. Hier auf der Reichenau gibt es so viele Alleinstellungsmerkmale, dass man sich entscheiden muss, wo man den Schwerpunkt setzt. Es ist ein so großer Reichtum. Wir sind Gemüseinsel, wir haben 250.000 touristische Übernachtungen im Jahr und bis zu einer Million Tagesbesucher.

Und wo liegen für Sie die Herausforderungen?

Wir bewahren den Charakter der Insel mit den Streusiedlungen durch Beschränkung der Bebauungsmöglichkeiten. Das ist neben dem Denkmalschutz eine anspruchsvolle Aufgabe. Aber die Gemeinde ist eine starke Gemeinschaft. Das zusammenzuführen, zu moderieren und den Reichtum aus der Vergangenheit in die Zukunft hinüberzutragen, das halte ich für eine wichtige Aufgabe, die mir viel Freude macht.

Profitieren Sie in Ihrem Amt auch von Ihrem theologischen Hintergrund?

Theologie ist ein breit angelegtes Studium. Und die Brücke zwischen Seelsorge und Politik ist groß. Man hat mit Menschen jedweder Couleur, jedweden Alters und Hintergrunds zu tun. Meine Aufgabe als Bürgermeister ist es, die Menschen zusammenzubringen. In einer überschaubaren Gemeinde braucht man für große Projekte alle mit im Boot. Was man theologisch "Dienst der Einheit" nennt, spielt auch kommunalpolitisch eine große Rolle.

1300 Jahre auf einen Blick

Dr. Wolfgang Zoll kennt die Geschichte der Insel Reichenau gut und fasst sie in einem kurzen Überblick zusammen.

"Das Kloster Reichenau ist eine karolingische Gründung. Der fränkische Königshof in der Zeit von Karl Martell hat im Alemannischen einen Stützpunkt errichtet, quasi ein Hauskloster. Der Gründer, der Heilige Primin, war aber nur drei Jahre hier. Daran sieht man, dass es Spannungen gab zwischen der alemannischen Bevölkerung und den fränkischen Herren.

Der Kern des Münsters entstand bereits 100 Jahre nach der Klostergründung. Es wurden also ganz viel finanzielle Ressourcen hier reingesteckt, um das Kloster zu entfalten. Von seiner Reise nach Byzanz als Diplomat Karls des Großen, um die Anerkennung dessen Krönung durch den oströmischen Kaiser zu erwirken, brachte Abt Hatto viele Ideen mit. Zum Beispiel auch die Form des Münsters als griechisches Kreuz. In dieser Zeit war in Westeuropa eher eine Basilika mit drei Langhäusern üblich.

Das Kloster war damals mehr als nur eine religiöse Einrichtung. Es war Verwaltungsmittelpunkt, der weit über die Region hinausweist ins ganze damalige fränkische Reich, wozu das Gebiet von Italien, Frankreich und Deutschland gehörte. Unter dem letzten Karolinger Ludwig Anfang des 10. Jahrhunderts war der Abt der Reichenau gleichzeitig auch Regent und Reichskanzler. Kaiser Karl III. ist hier in der Nähe gestorben und im Münster bestattet.

Unter den Ottonen ab 919 bis ins frühe 11. Jahrhundert verlagerte sich der Herrschaftsschwerpunkt an die Elbe. Die Reichenau war in dieser Zeit vor allem kulturell bedeutsam. Es gab die Klosterschule und es entstanden die berühmten Handschriften, die zum Weltdokumentenerbe gehören, oder die Ausmalungen in St. Georg.

Dann gibt es noch eine dritte Phase unter den salischen Kaisern im 11. Jahrhundert. Da wird auch das Münster nochmals um den Westchor erweitert. In dieser Zeit blühte vor allem die Wissenschaft, beispielsweise mit Hermann dem Lahmen.

Ab etwa 1150 verliert dann die Reichenau ihre zentrale Bedeutung. Im Kloster hatten Familien des Hochadels ihre Söhne untergebracht. Da war oft kein religiöser Impuls, sondern eher der Versorgungsgedanke. Die Reichenau hat sich nicht mehr den großen Reformrichtungen wie Cluny oder Hirsau angeschlossen, sondern verblieb in diesem reichskirchlichen Zusammenhang.

Es wurde auch nach und nach der Besitz verkauft und der Einfluss der Reichenau schrumpfte auf die Region, den Untersee. Das Kloster war noch Gerichtsherr im schweizerischen Thurgau oder in Allensbach. Im Grunde wurde es zu einer lokalen Herrschaft.

Während des Konstanzer Konzils von 1414 bis 1418 kamen viele Konzilsväter hierher und nahmen auch Bücher mit. Sie verschwanden, weil das den Mönchen nicht mehr wichtig war zu dieser Zeit. Anfang des 15. Jahrhunderts gab es nochmals einen kurzen Impuls, als auch der gotische Chor des Münsters gebaut wurde. Aber eine religiöse Wiederbelebung schaffte das Kloster nicht.

1540 verkaufte der letzte Abt die Reichenau an den Bischof von Konstanz. Ab da war der Bischof von Konstanz gleichzeitig in Personalunion Abt der Reichenau. Formal blieb es ein Kloster nach benediktinischer Regel. Aber in den Renaissancebauten nach 1600, in denen auch das Rathaus untergebracht ist, lebten bürgerliche Mönche, die vom Bischof von Konstanz abhängig waren.

In der Säkularisation um 1800 wurde das Kloster dann formal aufgelöst. Da war aber schon vieles nicht mehr lebendig. 2001 siedelten sich in Niederzell wieder Benediktiner an. In der Cella leben heute drei Mönche und zwei philippinische Schwestern, die das wiederbeleben. Sie machen auch die Seelsorge auf der Insel. In den zwei Jahrhunderten dazwischen trug die bürgerliche Gemeinde die Traditionen wie die Inselfeiertage mit ihren Prozessionen weiter."

Zur Person

Wolfgang Zoll ist in Stuttgart geboren und in Neuhausen auf den Fildern aufgewachsen. Nach dem Diakonat in Ravensburg, der Priesterweihe in Schwäbisch Gmünd und Vikarsjahren in Ulm begleitete Zoll ab 1996 angehende Priester als Repetent im Tübinger Wilhelmsstift. In dieser Zeit erwarb er das Lizenziat in Kirchengeschichte und promovierte in Philosophie. 2002 wechselte der Theologe in die kommunale Verwaltung und arbeitete in den Städten Brackenheim und Ludwigsburg. Im Februar 2010 trat der heute 57-Jährige das Bürgermeisteramt auf der Reichenau an, eine Aufgabe, die ihm auch in der zweiten Amtszeit große Freude macht.

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