Soziales

Der Mensch im Mittelpunkt

Stay at home, stay safe. Supporting family by delivering groceries during difficult times

Solidarität gehört zu den Sozialprinzipien der christlichen Gesellschaftslehre - und ist in der Krise besonders gefragt. Foto: iStock.com/Zbynek Pospisil

In der Krise hält die Bibel erstaunlich aktuelle Perspektiven für das Zusammenleben bereit, sagt Sven van Meegen in seinem Buch „Soziale Visionen“.

Herr Professor van Meegen, von Helmut Schmidt stammt der Ausspruch, wer Visionen habe, solle zum Arzt gehen. Was nützen eigentlich Visionen in einer Zeit, in der wir doch alle nur „auf Sicht fahren“ können?

Gerade jetzt fragen Menschen: Wie geht es weiter? Visionen sind eine Schau in die Zukunft. Soziale Visionen sind Zukunftsperspektiven für das Miteinander der Menschen, Chancen für ein Zusammenleben - gerade in Krisen. Im Übrigen steht Schmidts Zitat in einem anderen Kontext: Wer Visionen hat, merkt ja auch, dass etwas nicht stimmt, dass es an etwas krankt oder dass etwas in der Gesellschaft krank ist. Da braucht es den neutralen Blick von außen – auf die Gesellschaft, auf unsere Gemeinschaften und auch auf die Kirche.

Ihrem Buch, das Sie mit dem kürzlich verstorbenen Professor für Altes Testament, Otto Wahl, geschrieben haben, liegen biblische Visionen zugrunde, also Texte aus der Bibel. Warum sollte gerade die Bibel Visionen für heute und morgen liefern?

Diese Visionen sind zeitlos, auch wenn sie in eine antike Welt hinein verkündet wurden, und lassen sich in die Gegenwart hinein übersetzen. Visionen sind ja nicht nur eine Vorstellung, sondern etwas, das wir von der Möglichkeit in die Wirklichkeit übertragen können – im wahrsten Sinne des Wortes ver-wirk-lichen. Die sozialen Visionen der Bibel finden ihren Niederschlag in den Sozialprinzipien der christlichen Gesellschaftslehre…

… also Personalität, Solidarität, Subsidiarität und Gemeinwohl …

… ja, und mit diesen Sozialprinzipien hat die Kirche immer zu Zeiten, in denen große Krisen zu bewältigen waren, wirklich Auswege aufgezeigt: Zum Beispiel Papst Leo XIII. mit dem Schreiben „Rerum Novarum“ 1891, in dem er die Situation der Arbeiterinnen und Arbeiter in den Blick nahm, oder Pius XI. mit „Quadragesimo Anno“ 1931, wo er die Herausforderungen der Globalisierung thematisierte, indem er die Prinzipien der Subsidiarität und der Solidarität beleuchtete. Da waren die Kirchen am Puls der Zeit.

Wie würden Sie denn das Prinzip der Solidarität in die Gegenwart übersetzen?

Derzeit sind wir in einer Lage, dass Menschen sich nicht in gewohnter Weise um Familienangehörige, Verwandte und Freunde kümmern können – durch Abstandsregeln, Angst oder Verbot. Gerade dann braucht es neue Formen der Solidarität: durch neue Medien und andere Möglichkeiten, die wir schaffen, um uns trotzdem zu begegnen, ohne jemanden zu gefährden. Solidarität ist gefragt, wenn es darum geht, die Schwächeren in dieser Krise nicht allein zu lassen, sondern zu fördern. Denn die armen Menschen leiden am meisten. Das spiegelt sich wider im Tafelladen in Heidenheim; auch bei der häuslichen Gewalt, die leider zugenommen hat. Die Frage der Verteilung der Impfstoffe ist eine Frage der Solidarität zwischen den Völkern. Von Solidarität spricht die Bibel übrigens schon ganz am Anfang, im 1. Kapitel von Buch Genesis: Die Schöpfung, die Gott uns Menschen anvertraut hat, lässt sich nur erhalten, wenn wir uns künftigen Generationen solidarisch verbunden wissen.

Was bedeutet eigentlich Personalität, von der Sie gleich am Anfang Ihres Buches schreiben?

Das Personalitätsprinzip sagt, dass der Mensch im Mittelpunkt stehen muss. Personalität steht an der Spitze aller Sozialprinzipien und ist die Grundlage dafür, dass dem Menschen Würde zuzuerkennen ist. Ohne das Personalitätsprinzip an erster Stelle verlieren die anderen Sozialprinzipien ihren Bezugspunkt. Wenn Sie zum Beispiel Wirtschaftlichkeit in einer sozialen Einrichtung über das Personalitätsprinzip stellen, also über die Menschenwürde, verlieren die anderen Prinzipien ihre Grundlage. Wenn die Frage nach dem „Nutzwert“ des Menschen gestellt wird oder wenn von Menschen als „Material“ gesprochen wird, ist die Menschenwürde verletzt. Die Menschenwürde muss an oberster Stelle stehen. Psalm 8 bildet eine wunderbare Grundlage für diese Vision.

Sie haben den vier Sozialprinzipien noch einige hinzugefügt. Warum?

Ich habe die klassischen vier Prinzipien – Personalität, Solidarität, Subsidiarität und Gemeinwohl – erweitert durch zwei weitere: Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit. Diese Erweiterung ist mir ein ganz großes Anliegen, bei der Nachhaltigkeit im doppelten Sinne. Zum einen ökologisch: Wie können wir in der Schöpfung nachhaltig leben und so mit der Umwelt umgehen, dass wir und auch kommende Generationen gut von ihr leben können? Da kann jeder einen Beitrag leisten, sei es beim Einkauf, bei der Wahl des Fortbewegungsmittels, beim Bauen, beim Essen. Der zweite Aspekt sind die menschlichen Ressourcen: Wie können Menschen, die für andere da sind, ihre Kräfte so einteilen, also nachhaltig arbeiten, dass sie ihren Körper, ihre Psyche, ja, ihr ganzes Sein nicht an die Wand fahren? Hier an der Dualen Hochschule in Heidenheim bilden wir Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter aus – das ist die Berufsgruppe in Deutschland, die den höchsten Burnout-Faktor hat.

Was sagt die Bibel dazu und wie übersetzen Sie das in die Gegenwart?

Im 1. Buch Könige wird sozusagen Elijas Burnout geschildert. Was wir heute brauchen, sind Kraftquellen, klare Richtlinien für die helfenden Berufe, auch Unterstützung von außen. Wenn Menschen sich ganz reingeben, dann ist das wunderschön, aber wenn sie nicht auf sich selbst achten, ist das Raubbau am eigenen Körper. Wenn man dadurch krank wird, dann ist ja niemandem geholfen. Das gilt auch für pflegende Angehörige. 62 Prozent der pflegenden Angehörigen werden selbst schwer krank – oftmals werden die Erkrankungen richtig sichtbar, wenn der zu pflegende Mensch gestorben ist. Deshalb ist Nachhaltigkeit so wichtig –  sowohl ökologisch als auch mitmenschlich im Miteinander.

Und die Gerechtigkeit?

Die Bibel sieht in der Gerechtigkeit das Fundament des gesellschaftlichen Lebens. In einer Institution wie der Kirche, die die Gerechtigkeit sehr hochhält, muss ein ganz hoher Standard an Gerechtigkeit geleistet werden, etwa bei der Aufarbeitung des Missbrauchsskandals oder beim Umgang mit Menschen in der Kirche.

Gelten die sozialen Visionen eigentlich nur für Christen? Was ist mit anderen Religionen oder mit religiös unmusikalischen Menschen?

Wir haben auch den interreligiösen Dialog in den Blick genommen und dafür verbindende Texte ausgewählt, die etwa auch im Koran zu finden sind. Co-Autor Otto Wahl, der leider kurz vor Weihnachten verstorben ist, hat zudem die zwischenmenschlichen Dinge noch hinzugenommen, zum Beispiel: Was machen Alleinerziehende? Was machen Menschen mit Migrationshintergrund? Das sind Konkretisierungen, mit denen Menschen im Alltag etwas anfangen können. Otto Wahl hat es in einzigartiger Weise geschafft, auch sperrige Texte aus der Bibel stimmig und verstehbar zu machen für die Menschen.

INFO

Das Buch „Soziale Visionen“ von Sven van Meegen und Otto Wahl ist erschienen beim LIT-Verlag, Fresnostr. 2, 48159  Münster, E-Mail: vertrieb@lit-verlag.de

Prof. Dr. PhDr. Sven van Meegen (*1976)
Professor für Sozialethik und Sozialphilosophie an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg in Heidenheim, Dekan des katholischen Dekanats Heidenheim und Dekan der Fakultät Sozialwesen.

Prof. P. Dr. Otto Wahl SDB (1932-2020)
Professor für Altes Testament und langjähriger Rektor der Philosophisch-Theologischen Hochschule in Benediktbeuern.

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