Das heißt, Sie spiegeln das Thema zurück zu jedem und jeder einzelnen?
Das betrifft uns alle. Gleich am ersten Abend kam das Thema „Notlüge“ zur Sprache. Es gibt ja keinen, der nicht schon gelogen hat. Eine Teilnehmerin hat gesagt, es gebe gewisse Dinge, mit denen sie ihre Eltern nicht belasten möchte. Darüber habe ich eine Weile nachgedacht: Haben wir das Recht, für andere zu entscheiden, welche Wahrheiten gut für sie sind, also was wir weitergeben oder verleugnen? Haben wir zu wenig Vertrauen in unsere Mitmenschen?
Das kann ja auch leicht zu einem Konflikt führen. Denken Sie an die Frage der Ehefrau: Steht mir das Kleid? Soll man das in Kauf nehmen?
Okay (lacht), das ist eine Fangfrage. Egal, was Sie antworten, es wird die falsche Antwort sein. Und gerade deshalb denke ich auch in diesem Fall: frei raus, spontan und ehrlich sagen, was man denkt. Ich beschäftige mich beruflich viel mit Kommunikation, wie Menschen miteinander kommunizieren, und was zu Konflikten führt. Ganz viele Menschen sind davon überzeugt, dass das, was sie glauben, wahr ist. Aber sie können sich nicht vorstellen, dass das, was der andere glaubt, auch wahr sein könnte. Wir können es aber nicht wissen. Wir müssen den anderen danach fragen.
Im konkreten Fall kann das sicher gut sein. Aber wie bringt uns das in unserer Frage „Was ist Wahrheit?“ weiter?
Man muss sich bewusstmachen, dass es höchstwahrscheinlich nicht die eine Wahrheit gibt. Das, was jede und jeder von uns an Erfahrungen, an Wissen aufgebaut hat, ist seine Wahrheit, das ist aber nicht das Nonplusultra. Niemand hat die Wahrheit „mit Löffeln gefressen“.
Wenn aber jeder seine Wahrheit hat, warum echauffieren wir uns dann so über andere, etwa in den sozialen Medien?
Das Thema ist sehr vielschichtig. Es gibt Dinge, die haben wir vereinbart, etwa was Gelb ist und was Grün. Es gibt wissenschaftliche Dinge, die man beweisen kann, die wahr sind. Und es gibt die Wahrheit, die auf einer Wahrnehmung beruht. Wir müssen offen sein für neue Erkenntnisse, neue Wahrheiten. Aber umgekehrt auch kritisch sein gegenüber sogenannten Fakten. Im übrigen muss ich auch nicht meine Wahrheit in den anderen „hineinprügeln“. Ich kann auch mal etwas stehen lassen.
Der nächste Abend der Reihe ist der Bibel und der Theologie gewidmet. Jesus sagt: Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben (Joh 14,6). Ist so etwas überhaupt vermittelbar?
Ich glaube, dass sich die Menschen da schwertun, die Bibel beim Wort zu nehmen. Was heißt das denn eigentlich? Wie soll ich das verstehen? Manches ist zu abstrakt, zu wenig konkret. Ich finde, wir gehen da viel zu wissenschaftlich ran an diese Frage, weil sich Wahrheit im Glauben nicht in einem 1+1=2 erschöpft. Darüber wird zu reden sein.
Die Kirche nimmt für sich in Anspruch, dass sie Wahrheit lehrt. Eine Anmaßung?
So, wie ich es gerade erlebe, ist es das streng genommen. Mir fehlt hier in den Argumentationen und Begründungen der Bezug zur Bibel, dem Wort Gottes. Meines Erachtens haben wir die Bibel ziemlich aus den Augen verloren. Es wird in den Gottesdiensten zwar noch gepredigt, aber sehr oft nicht aus der Bibel heraus begründet. Wenn man die Bibel hernimmt, wird vieles, was die Kirche lehrt, auch nachvollziehbar. Die Wahrheit, die in der Bibel steht, wird zu selten betrachtet. Der Mensch braucht Orientierung und die Kirche muss nicht alles gutheißen, was gerade hipp ist.
Was könnte eine Schlussfolgerung der Seminarreihe sein? Mehr Gelassenheit?
Wir sollten nicht müde werden, auf Augenhöhe zu diskutieren. Wir brauchen den Mut, uns den Widersprüchen in der Welt zu stellen, dem, was ich und du als Wahrheit ansehen, und darüber zu sprechen. Vielleicht müssen wir uns auch mal auf andere Art und Weise einer Form von Wahrheit anzunähern, die Gefühle mit einbeziehen und intuitiver herangehen. Beim Abschlussabend wird es um Literatur, Musik und Kunst gehen. Welche verborgenen Wahrheiten werden wir dort womöglich finden? Die Suche nach Wahrheit ist ein Weg, den wir gemeinsam beschreiten müssen.