Ich traf einen bekannten Oberndorfer Rechtsanwalt vor der Tür meines Hausarztes. Er sprach mich an: „Hallo Herr Brehm, lange nicht mehr gesehen. Wie geht’s Ihnen in ihrem Urlaub? Wird es ihnen nicht langsam zu langweilig?“ Ich fragte ihn, wie er auf die Idee kommt, dass ich Urlaub hätte? Er antwortete mir: „Ja in der Kirche läuft doch grad nix!“ Ich bedankte mich sehr freundlich für seine Nachfrage und wir kamen ins Gespräch. Dann erzählte ich ihm von meinem Erleben und von meiner Arbeit:
Ich erlebe die Pandemie in unserer Seelsorgeeinheit „Raum Oberndorf“ im Dekanat Rottweil als eine spannende, widersprüchliche, unmenschliche, sprachlose, traurige, frohe und sehr arbeitsreiche Zeit. Es ist alles dabei, was an Empfindungen möglich ist. Corona deckt gnadenlos den Zustand auf, in dem die Kirche in unserer Raumschaft ist. Es passiert viel: schönes, schlechtes, hilfreiches und zu kritisierendes und mein positives, manchmal auch naives Kirchenbild bekommt immer mehr Risse, die nicht einfach überspachtelt und gekittet werden können. Sie sind da und bleiben.
Risse, bei denen ich nicht nur an die Skandale und Schwierigkeiten der Kirche in Deutschland denke, sondern besonders an die Verletzungen und schwierigen Lebenssituationen, die Menschen zurzeit besonders erfahren. Immer wenn ich bei den Menschen in ihren Lebenslagen bin, umso mehr erfahre ich von trostlosen und traurigen Erlebnissen. Dabei sind alle Altersgruppen betroffen: Alte und Junge, es macht keinen Unterschied! Besonders das Abstand halten, das nur schwer Begleitung und Beziehung zulässt, werden als sehr schmerzlich wahrgenommen. Viele haben Angst, viele fühlen sich allein gelassen. Viele stehen vor den Scherben ihrer Existenz. Besonders wenn ich mit Trauernden Beerdigungen vorbereite und sie in dieser Phase begleite, bekomme ich das Drama der Pandemie besonders zu spüren. Sterbebegleitung ist manchmal unmöglich, Sterben findet im Verborgenen statt. Menschen sind in diesen Situationen überlastet und überfordert, ja traumatisiert. Das macht mich traurig!
Ich habe mich während des letzten Jahres nicht zurückgezogen, ich habe kaum Urlaub gemacht und bin weiterhin fleißig mit Menschen in Kontakt, so gut es eben geht in der Pandemie. Kontakte erlebe ich als sehr wichtig und wenn früher ein Gespräch kurz war, ist heute das Gegenteil der Fall: Menschen möchten sich mitteilen, möchten von ihrem Leben erzählen und das finde ich toll. Auch in den Lockdowns, als alles geschlossen werden musste, haben wir im Pastoralteam individuelle Lösungen von Seelsorge, Begleitungen und Gottesdienstformen besonders für die Altenheime und ans Hausgebundenen gefunden, so wie es je Pandemiephase möglich war.
Es ist auch besonderes passiert. Wir konnten gemeinsam in Epfendorf einen Besinnungsweg aufbauen und feierlich einweihen. Der Kreuzweg in Altoberndorf wurde thematisch neugestaltet. In den Kirchengemeinden entstanden verschiedene spirituelle Rundwege. Für Erstkommunionkinder fanden besondere Veranstaltungen statt. Unsere Firmlinge des letzten Jahres konnten gefirmt werden. In der Tafel arbeiten die Ehrenamtlichen an vorderster Front und nehmen viel Mühe auf sich, die Oberndorfer Bedürftigen zu versorgen. Dort wo viele wegbleiben, da erlebe ich besonders viel Engagement und Einsatzbereitschaft. Das beeindruckt mich!