Abgesagte oder nicht-öffentliche Gottesdienste, Ostern und Weihnachten zuhause oder nur mit Abstand und ohne Gesang in der Kirche: Die Corona-Pandemie hat in den vergangenen rund 15 Monaten Spuren im Glaubensleben vieler Katholikinnen und Katholiken hinterlassen. Doch anstatt den Kopf in den sprichwörtlichen Sand zu stecken, haben viele eine teilweise in Vergessenheit geratene Tradition wieder für sich entdeckt: die Hauskirche. Für Matthäus Karrer, Weihbischof in der Diözese Rottenburg-Stuttgart, und Dr. Katrin Brockmöller vom Katholischen Bibelwerk e.V. Anlass, sich der Hauskirche intensiv anzunehmen und deren Theologie weiterzuentwickeln. Im Interview berichten die beiden, was es damit auf sich hat.
Herr Weihbischof Karrer, die neue Broschüre zur Hauskirche ist aus der Corona-Pandemie heraus entstanden. Im Eingangswort schreiben Sie, dass die Krise die Kirche irritiert hätte, diese Irritation gleichwohl eine Chance zur Veränderung sei. Im Hinblick auf die Hauskirche können wir also von einer Irritation mit positivem Ergebnis sprechen?
Ich meine ja und bin mit dieser Einschätzung nicht allein. In mehreren Studien zur Corona-Krise, die mit haupt- und ehrenamtlichen kirchlichen Mitarbeitenden durchgeführt wurden, wurde die Hauskirche als große Chance benannt: So haben sich viele Familien und Wohngemeinschaften mit Impulsen und Materialien versorgt und in den eigenen vier Wänden oder auch im Garten Gottesdienste, Andachten und Rituale gefeiert und auf diese Weise Hauskirche wieder entdeckt. Die Hausgottesdienste, die wir auf unserer diözesanen Homepage zum Download anbieten, sind seit Monaten das gefragteste Produkt. Dabei haben viele Familien und Wohngemeinschaften festgestellt: Wir können das! Wir können unseren Glauben und unser Kirche-sein in die Hand nehmen und gerade in dieser Krisenzeit religiöse Ausdrucksformen finden und praktizieren.
Auf welche Tradition blickt die Hauskirche zurück, Frau Dr. Brockmöller?
Sich im Haus zu treffen, ist der Anfang des Christentums. Die Häuser waren in den ersten beiden Jahrhunderten die Orte, an denen sich die Christinnen und Christen trafen, um gemeinsam zu beten, zu essen, die Schrift zu lesen, das Herrenmahl zu feiern und auch einfach einander Stütze im Alltag zu sein. Vielleicht genau das, was wir in der Pandemie so intensiv spüren:
Wir erleben die Fülle des Lebens, wenn wir die Verbindung zu anderen spüren, wenn wir einander nah sind, unsere Wunden und unser Glück teilen. Genau darin zeigt sich uns dann auch die Gegenwart Christi.
Im Heft gibt es daher ein großes Kapitel, das die biblischen Grundlagen der Hauskirche aufzeigt. Ergänzt wird die biblische Grundlegung mit pastoraltheologischen Gedanken, die das biblische Zeugnis auf unsere Situation aktuell anwenden und in den Bistumsprozess der Diözese einbinden.
Für mich ist das, was wir aktuell an „Krise“ in unserer verfassten Kirche erleben wie ein Auftrag, noch einmal auf gute Modelle aus unserer Geschichte zu blicken und aus ihnen kreativ zu lernen. Vor der Kirche als großer Institution gab es viele Formen von Gemeinschaften und auch kontextbezogene Gestaltungen der Nachfolge Christi. Mein Traum wäre, dass wir neu lernen, beides miteinander zu verbinden: Dass es eine große Vielfalt in der konkreten religiösen Praxis geben kann, dass Frauen und Männer ermutigt werden, in den Texten der Schrift wirklich das „Wort Gottes für jetzt“ zu hören und im Teilen von Brot und Wein die Einheit in Christus zu feiern.
Wenn ich zuhause alleine, mit meiner Familie oder Freunden eine Hauskirche feiern möchte, was benötige ich dafür, Herr Weihbischof Karrer?
Zuerst einmal benötige ich das Zutrauen, dass ich aufgrund von Taufe und Firmung befähigt bin, mit anderen zusammen die Bibel zu lesen und zu beten, meinen Alltag Gott hinzuhalten und von Gott her Begleitung und Stärkung zu erfahren. Ich benötige vielleicht auch die motivierende Unterstützung von Seiten der Kirche und den Gemeinden. Dazu dient die Broschüre zur Hauskirche: Sie will Mut machen und einladen, einfach mal anzufangen. Ich kann ja nichts falsch machen, wenn ich mit anderen zusammen auf das Wort Gottes höre, singe und bete und mich für meinen Alltag segnen lasse. Zum anderen brauchen viele Menschen konkrete Impulse und Materialien, die von uns als Diözese, aber auch von vielen anderen Stellen, wie der eigenen Kirchengemeinde oder z.B. dem Bibelwerk, bereitgestellt werden: Vor Ort und im Internet hat sich ein breites Angebot etabliert und viele haben Lust zu stöbern und das auszusuchen, was sie brauchen, je nachdem, ob sie kleinere oder größere Kinder haben oder als Erwachsene oder beispielsweise als Paar feiern.
Ich kann nur ermutigen, probieren Sie es, trauen Sie sich und fühlen Sie sich von Gott bestärkt, ganz im Sinne des Bibelwortes „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, bin ich mitten unter ihnen“ (Mt 18,20).
Wie kann mich die Broschüre dabei unterstützen, Frau Dr. Brockmöller?
In der Broschüre finden Sie ganz konkrete Tipps. Es gibt praktische Vorschläge, wie Sie zu einer „Hauskirche“ einladen können, Möglichkeiten sich zu vernetzen, sich beraten zu lassen und natürlich Ideen zur konkreten Gestaltung eines Treffens. Ein besonderer Bereich in dieser Broschüre sind biblische Texte zur Stärkung und Inspiration einer „modernen“ Hauskirche. Diese Kapitel kann man für sich allein lesen oder als Grundlage für ein Bibelgespräch in einer Gemeinschaft verwenden. Es beginnt mit einem Lesespaziergang durch viele Häuser der Evangelien und der Apostelgeschichte und vertieft dann die Begegnung mit zwei besonderen biblischen Hauskirchen: Dem Haus der Lydia als erste europäische Hauskirche (Apg 16) und einem Einblick in die bunte Welt der römischen Hauskirchen (Röm 16).
Die Familie gilt noch immer als Keimzelle des christlichen Glaubens – vom Zweiten Vatikanischen Konzil wurde die Familie selbst sogar als Hauskirche bezeichnet. Inwiefern ist die Hauskirche hier ein besonders geeignetes Instrument, um Kinder an den Glauben heranzuführen und ihnen Begeisterung für diesen zu vermitteln, Herr Weihbischof Karrer?
Die Familie ist eine wichtige Zelle, um das Leben praktisch zu lernen. Hauskirche bezieht sich aber nicht nur auf die klassische Familie: nicht nur Eltern und Kinder können eine Hauskirche bilden, auch Großeltern und Enkelkinder, Wohngemeinschaften, Freundinnen und Freunde, die zusammenkommen, Nachbarinnen und Nachbarn. Für alle Gemeinschaften gilt, dass sie den Glauben in ihren Alltag integrieren, ganz wörtlich in die Räume, in denen sie ihr Alltagsleben verbringen:
Um den Wohnzimmer- oder Küchentisch kommt man zusammen, um die Bibel zu lesen und sich darüber auszutauschen, zu beten und zu singen, aber auch, um zu diskutieren, was es bedeutet, als Christ oder Christin leben zu wollen, welche Herausforderungen man in der Gesellschaft wahrnimmt und was das für das Christsein bedeutet.
Die Gewalt in unserer Gesellschaft hat – folgt man aktuellen Berichten – gerade in der Pandemie zugenommen. Bestimmte Gruppierungen werden wegen ihrer Herkunft oder auch ihres Glaubens immer ausgegrenzt; in der Hauskirche kann man beraten, was das für uns als Christen und Christinnen bedeutet, wo wir gefordert sind und wer unsere Hilfe braucht; und dann kann man diese Themen und Fragen in einem gemeinsamen Beten vor Gott tragen, um Gottes Beistand, Trost und Kraft zum Handeln bitten. So kommen die Grundaufträge des Christlichen in der Hauskirche zusammen: der Dienst am Nächsten, die Kommunikation des Glaubens und das gottesdienstliche Feiern. Und: Kinder lernen am besten durch Vorbilder und Rituale in der häuslichen Gemeinschaft; somit ist die Hauskirche ein idealer Ort zur Glaubenskommunikation mit Kindern und Enkelkindern.