Die eine Krise ist noch nicht überstanden und schon kommt die nächste: Corona schwelt noch immer. Die Überschwemmungen in Australien führen die Folgen des Klimawandels beängstigend deutlich vor Augen. Und seit dem 24. Februar zeigt der Ukraine-Krieg, wie brüchig die Sicherheitslage in Europa ist. „Die Sicherheit, in der wir uns geglaubt haben, bekommt Risse“, sagt Gabriele Stark, die Leiterin der katholischen Telefonseelsorge Ruf und Rat. Der Krieg an der Grenze Europas weckt bei vielen Menschen Ängste: Junge Menschen blicken düster in die Zukunft, bei vielen Älteren brechen Erinnerungen an den Krieg und die eigene Flucht und Vertreibung wieder hervor. Viele Frauen und Männer kommen mit den aktuellen Entwicklungen nicht mehr alleine klar und suchen Hilfe bei den beiden Stuttgarter Telefonseelsorgen. Die haben heute ihren gemeinsamen Jahresbericht vorgestellt.
Die Telefonseelsorgen sind ein guter Seismograph für die Stimmungslage der Menschen. „Die Häufung der Krisen führt bei vielen Menschen zu einer Art Schockstarre“, stellt Gabriele Stark, die Leiterin der katholischen Beratungsstelle Ruf und Rat fest. Zwei Jahre Pandemie haben zu vielen Verunsicherungen geführt, jetzt kommt der Ukraine-Krieg hinzu, dessen Auswirkungen auch bei uns jeden Tag deutlicher zu spüren sind: Es kommen immer mehr Menschen auf der Flucht vor dem Krieg in Stuttgart an, die untergebracht und langfristig integriert werden müssen. An vielen Stellen steigen die Preise infolge der Sanktionen und der Abhängigkeiten von russischen Öl- und Gaslieferungen. „Viele Menschen sind in ihrem Leben ohnehin schon sehr belastet, weil sie eine Trennung erlebt haben, weil sie um ihren Arbeitsplatz fürchten, einen geliebten Menschen verloren haben oder an Depressionen leiden“, sagt Stark. Zu all diesen Belastungen im privaten Leben kommen die äußeren Krisen dazu. „Das kann zu einer Ohnmacht und Hilflosigkeit führen, mit der die Anrufenden nicht mehr klarkommen“, so die Leiterin der katholischen Telefonseelsorge. Das könne auch dazu führen, dass die Menschen nach einfachen Feindbildern suchten und sich in ihre eigene Welt, ihre eigene Filterblase flüchteten.
Erinnerungen an den Krieg und die eigene Flucht werden wieder wach
„Bei uns im Chat melden sich junge Menschen, die nicht mit Zuversicht, sondern mit vielen Ängsten in die Zukunft blicken. Sie haben Angst vor dem Klimawandel und jetzt noch Angst vor einem Krieg“, berichtet Martina Rudolph-Zeller, die Leiterin der evangelischen TelefonSeelsorge Stuttgart. Zum Telefon wiederum greifen ältere Menschen, die den Zweiten Weltkrieg erlebt haben und die jetzt von ihren Erinnerungen heimgesucht werden. „Unter den Anrufenden hatten wir eine Frau, die uns geschildert hat, seit Tagen zitternd auf dem Sofa zu sitzen“, so Rudolph-Zeller. Ebenfalls Unterstützung bei den Telefonseelsorgen suchen Menschen, die vor dem Jugoslawienkrieg geflohen sind und die jetzt zusehen müssen, wie Frauen und Kinder vor dem russischen Angriff aus der Ukraine flüchten. Und dann sind da noch die Menschen, die ohnehin schon am Rand stehen, weil sie mit wenig Geld auskommen müssen und jetzt nicht mehr wissen, wie sie die Preissteigerungen aufbringen sollen. „Angerufen hat zum Beispiel eine 80-jährige Frau, die sich sorgt, wie sie die Kosten für das Heizöl für den nächsten Winter bezahlen soll“, so Martina Rudolph-Zeller.
Selbst tätig werden und die eigene Ohnmacht überwinden
Was aber können die vier Hauptamtlichen und die 170 Ehrenamtlichen der katholischen und der evangelischen Telefonseelsorge für die Anruferinnen und Anrufer tun? Sie können da sein, Tag und Nacht, werktags und am Wochenende, zuhören und Fragen stellen. „Und manchmal können wir Wege aufzeigen, wie aus der Ohnmacht heraus Unterstützung für andere wachsen kann. „Es kann helfen, zu einem Friedensgebet oder einer Demo zu gehen und zu sehen, ich bin mit meinen Gefühlen nicht allein. Oder ich kann einen Beitrag zu einem Hilfspaket leisten, dort ehrenamtlich mit anpacken, wo ein Konvoi in die Ukraine vorbereitet wird oder wo Flüchtende ankommen. Zu erleben, ich kann etwas tun, kann enorm helfen“, sagt Bernd Müller, der stellvertretende Leiter von Ruf und Rat. „Wir erleben gerade in dieser schwierigen Zeit eine enorme Solidarität und Hilfsbereitschaft. Da werden menschliche Höchstleistungen sichtbar, wir müssen sie nur wahrnehmen“, so Gabriele Stark.
Jüngere Menschen suchen sich in der Chatberatung Hilfe
Die beiden Stuttgarter Telefonseelsorgen haben im vergangenen Jahr 32 885 Gespräche geführt. Was die Haupt- und Ehrenamtlichen der beiden Telefonseelsorgen wahrnehmen: zwei Jahre Pandemie haben die Haltung vieler Menschen gegenüber dem Staat verändert: „Das Vertrauen, dass der Staat die Krise für uns alle regeln kann, ist deutlich erschüttert“, stellt Bernd Müller fest. Auch dies wecke wiederum Ängste. Nahezu unverändert ist die Zusammensetzung der Anrufenden: 72,3% Prozent sind Frauen, 27,3% Männer. In vielen Fällen geht es um Ängste, Depressionen, Lebenskrisen. Während ältere Menschen ganz selbstverständlich zum Hörer greifen, nehmen jüngere im Alter zwischen 20 und 29 Jahren verstärkt die Chatberatung in Anspruch. Sowohl bei der evangelischen als auch bei der katholischen Telefonseelsorge sind rund um die Uhr Frauen und Männer ehrenamtlich im Einsatz. Alle haben vorher eine Ausbildung über mindestens 150 Stunden durchlaufen. 2023 beginnen die nächsten Ausbildungskurse für Ehrenamtliche.