Weltkirche

Die vergessene Krise im Libanon

Bild: Diözese Rottenburg-Stuttgart / Flavia Rizzi / HA Weltkirche

Das Gesundheitszentrum der Caritas in Sin el Fil, Beirut, war das Ziel am letzten Tag der Studienreise nach Jordanien und in den Libanon.

Dr. Oliver Müller, Leiter von Caritas International, berichtet vom letzten Tag der Studienreise, an der neben Mitarbeiter:innen der Haupabteilung Weltkirche auch drei Rottenburger Diözesanräte teilnehmen:

Nach drei Tagen mit sehr vielen intensiven Eindrücken nutzten wir den letzten Tag unserer Reise im Libanon, um uns die Arbeit der Caritas Libanon anzusehen, die ein langjähriger Partner des Deutschen Caritasverbandes ist. 1972 als Caritas Südlibanon gegründet und während des Bürgerkrieges 1976 als Caritas Libanon registriert, hat sich die Organisation zu einer der größten und bedeutendsten NGOs des Landes entwickelt. Mit ihren knapp 800 Mitarbeitenden und tausenden Freiwilligen, ist sie im ganzen Land präsent und hält in der schweren Wirtschafts- und Finanzkrise, die das Land durchlebt, lebensnotwendige Dienstleistungen, wie medizinische Basisversorgung, aufrecht.

Bei unserer Ankunft im Gesundheitszentrum in Sin el Fil, Beirut, wurden wir herzlich vom Caritas Libanon Präsidenten, Father Michel Abboud, und der Leiterin der Gesundheitsabteilung, Marie-Claude Daher, begrüßt. Vor dem Gesundheitszentrum warteten bereits fast zwei Dutzend Patienten und Patientinnen auf ihren Termin beim Radiologen, Physiotherapeuten oder der Psychologin, die an diesem Vormittag Dienst hatten. Diese Ärzte und Ärztinnen sind meist in anderen Krankenhäusern oder Privatkliniken angestellt, arbeiten jedoch für einige Stunden in der Woche ehrenamtlich oder für eine geringe Aufwandsentschädigung im Gesundheitszentrum der Caritas.

Aufgrund der extrem hohen Inflation des libanesischen Pfunds und den damit einhergehenden drastisch gestiegenen Kosten für medizinische Versorgung können sich die meisten nicht mal mehr einen Arztbesuch leisten. Eine normale Untersuchung kann 50 US-Dollar und mehr kosten, was für viele Menschen bereits ein Monatsgehalt darstellt. Hier können Gesundheitszentren wie das der Caritas lebensrettend sein, da für Patienten und Patientinnen keine oder nur sehr geringe Kosten anfallen.

Der Deutsche Caritasverband unterstützt diese Arbeit seit mehreren Jahren über ein Projekt aus Mitteln des Bundesministeriums für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit (BMZ), in dem die Kosten für ärztliche Konsultationen, diagnostische Test und Medikamente speziell für chronisch (z.B. Diabetes, Bluthochdruck, Herz-Kreislauferkrankungen) und psychisch kranke Menschen übernommen werden.

Bedarf an psycho-sozialer Unterstützung steigt

Nach einem Rundgang durch das gut organisierte Gesundheitszentrum und Besichtigung der hausinternen Apotheke, erfuhren wir in einem Gespräch mit Sami Chalhoub, dem Koordinator für physische Gesundheit, wie stark der Bedarf an psycho-sozialer Unterstützung angestiegen ist. Sind psychische Erkrankungen bis heute zu einem gewissen Grad ein Tabuthema im Libanon, so scheint doch vielen die Bedeutung psychischer Gesundheit bewusster zu werden.

Viele syrische Geflüchtete leben nicht nur unter sehr schwierigen sozio-ökonomischen Bedingungen mit wenig Aussicht auf Verbesserung, was an sich bereits “krank” machen kann, sondern müssen auch Kriegs-, Folter- und Verlusterfahrungen verarbeiten. Die Folgen der Covid-19-Pandemie, die schwere Hafenexplosion im August 2020 und die andauernde Wirtschaft- und Finanzkrise, die fast 80% der Bevölkerung des Landes in die Armut getrieben hat, führten auch bei der libanesischen Bevölkerung zu einem vermehrten Auftreten von insbesondere Depressionen und Angststörungen.

Die Caritas versucht hier neben verschiedenen Behandlungsangeboten auch durch Sensibilisierungsmaßnahmen und -kampagnen gezielt zur Aufklärung beizutragen, um die Stigmatisierung psychisch kranker Menschen zu bekämpfen.

Neben den zehn Gesundheitszentren, die die Caritas im ganzen Land betreibt, unterhält die Organisation neun mobile medizinische Einheiten, die besonders unterversorgte oder schwer erreichbare Regionen des Landes abdecken. Diese kommen auch immer wieder bei Gesundheitskampagnen zum Einsatz, die bestimmte Zielgruppen oder Erkrankungen in den Fokus nehmen.

Eine dieser Kampagnen speziell für Migranten und Migrantinnen im Beiruter Stadtteil Achrafieh konnten wir ebenfalls besuchen. In einem Sozialen Zentrum der Caritas wimmelte es bei unserer Ankunft am späten Vormittag bereits von Menschen. Auf einem großen Platz registrierten Caritas Mitarbeitende Frauen, Männer und Kinder, die im Anschluss eine kostenlose Behandlung erhielten. Für die Versorgung mit den erforderlichen Medikamenten standen zwei mobile medizinische Einheiten bereit – Vans, die wie eine Arztpraxis und Apotheke auf Rädern fungieren.

"Kafala" hält Arbeitskräfte aus dem Ausland in Abhängigkeit

Auf der ersten Etage des Sozialen Zentrums begegneten wir außerdem ca. 40 Kindern der Beit Aleph Schule, die gerade auf dem Weg zum Mittagessen waren und sichtlich begeistert schienen von unserem Besuch. Die Schule bietet Kindern von Migranten und Migrantinnen im Vorschulalter neben den Grundfächern auch Unterricht in Englisch und Arabisch an, um ihnen die spätere Integration in reguläre Schulen zu erleichtern.

Viele Migrantinnen und Migranten im Libanon sind besonders unterstützungsbedürftig, da Hilfsprogramme sie häufig nicht hinreichend berücksichtigen und die Wirtschaftskrise ihnen ihren Lebensunterhalt entzogen hat, denn viele Libanes:innen können sich keine Hausangestellten mehr leisten – ein Haupterwerbszweig für Migrantinnen.

Die Caritas engagiert sich seit Jahrzehnten für die Belange von Migranten und Migrantinnen im Libanon und kämpft für die Abschaffung des sogenannten Kafala Systems, das ausländische Arbeitnehmer:innen in leibeigenschaftlichen Verhältnissen an ihre Arbeitgeber:innen bindet. Bei Verlust der Arbeit oder einseitiger Beendigung des Arbeitsverhältnisses droht ihnen Gefängnis oder Deportation, da Aufenthaltsgenehmigungen an den jeweiligen Arbeitgeber gebunden sind.

Im Gespräch mit drei Migrantinnen aus Äthiopien und Ghana, die von der Caritas unterstützt werden, erfuhren wir, dass viele von der Hand in den Mund leben und versuchen, sich und ihre Familien mit Gelegenheitsjobs über Wasser zu halten. Doch mit ihrem sehr geringen Arbeitslohn ist dies fast unmöglich. Zusätzliche Unterstützung durch NGOs wie der Caritas in Form von Lebensmittelhilfe, kostenloser medizinischer Versorgung, Mietunterstützung und Bildungsmöglichkeiten ist unabdingbar, um ihr Überleben zu sichern.

Insgesamt waren wir sehr beeindruckt von der umfangreichen Hilfe, die Caritas Libanon unter den schwierigen Bedingungen leistet. Der derzeitige Niedergang des Landes gehört zu den großen vergessen Krisen unserer Zeit und bedarf dringend einer größeren medialen Aufmerksamkeit und Unterstützung. 

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