Demokratie

Eine anspruchsvolle Staatsform in der Defensive

75 Jahre Bundesrepublik Deutschland, Foto: Elvira Groot auf Pixabay

„75 Jahre Bundesrepublik Deutschland – Perspektiven auf ein verunsichertes Land“: Online-Vortragsreihe der keb startet am 7. März.

Im Mai wird die Bundesrepublik Deutschland 75 Jahre alt. Seit ihrer Gründung nahm die Bundesrepublik Deutschland eine rasante ökonomische Entwicklung als „Wirtschaftswunder“ und „Exportweltmeister". Nach der jahrzehntelangen Diktatur und den Folgen des Zweiten Weltkriegs waren Hoffnungen und Sehnsüchte nach Freiheit, Wohlstand und Demokratie verbunden. Ist 75 Jahre später der Enthusiasmus der Aufbruchsjahre verpufft? Die Katholische Erwachsenenbildung "keb" in der Diözese Rottenburg-Stuttgart startet am 7. März die vierteilige Onlinereihe „75 Jahre Bundesrepublik Deutschland – Perspektiven auf ein verunsichertes Land“.

Blitzlichter auf unser Land

Benedict Schultheiß, Referent für Digitale Bildung bei der keb Rottenburg-Stuttgart und Koordinator der Online-Vortragsreihe erklärt das Ziel der Veranstaltungen: „Es sollen unterschiedliche Blitzlichter auf unser Land geworfen werden. Wir möchten Probleme analysieren, Lösungsansätze präsentieren und diskutieren, wie sozialen Missständen entgegengewirkt und eine starke demokratische Gesellschaft gefördert werden kann.“ Schultheiß erinnert: „Auf dem Fundament des Grundgesetzes wurde eine stabile demokratische Kultur entwickelt“. Er befürchtet, beides stehe momentan auf dem Prüfstand. Deshalb komme der Katholischen Erwachsenenbildung in der Diözese Rottenburg-Stuttgart eine besondere Verantwortung zu: „In dieser Situation, in der bewährte politische Partizipationsmodelle unter Druck geraten, eine wachsende Kluft zwischen Arm und Reich konstatiert wird und antidemokratische Positionen in Politik und Gesellschaft sich lautstark vernehmen lassen, setzt sich die keb entschieden für die demokratischen Grundlagen unseres Gemeinwesens ein.“

Als Demokrat bist Du nicht allein

Dr. Claudia Guggemos, Leiterin der keb Reutlingen, führt zwei der vier Veranstaltungen durch und war aktiv bei der Themenauswahl beteiligt. Für sie ist der Rechtsruck in der Gesellschaft nicht mit der christlichen Lehre vereinbar: „Die Gottesbildlichkeit bedeutet, dass jeder Mensch eine Freiheit und eine Würde hat. Das ist für mache Menschen vielleicht kompliziert, aber genau das bedeutet Demokratie.“ Das aktuelle Statement der Bischöfe sei deshalb ein Riesenrückwind für die Demokratie. Die Vortragsreihe, so Guggemos, wolle die verunsicherten Demokraten ansprechen und ihnen versichern: „Lass Dir nicht einreden, dass Du allein bist".

Was macht die „German Angst“ mit uns?

Den Auftakt der Serie am 7. März macht Dr. Frank Biess mit einer Online-Veranstaltung zum Thema „Republik der Angst“. Der Professor für Europäische Geschichte an der University of California in San Diego spricht vom Grundgefühl der Deutschen seit der Gründung der Bundesrepublik, der sogenannten „German Angst“, die das Land in der Vergangenheit auch stabilisierte. Biess erläutert seine Theorie: „Was in der Bundesrepublik Deutschland immer besonders stark ausgeprägt war, war die Angst vor autoritären und antidemokratischen Tendenzen. Dies hing vor allem mit der Erinnerung an die NS-Zeit und dem damit verbundenen Bemühen zusammen, eine wie auch immer geartete Wiederholung dieser Vergangenheit zu vermeiden.“ Diese „German Angst“ sei heute jedoch auch das Problem. Biess fragt sich: „Steckt hinter der Verunsicherung unserer Tage dieselbe Angst?“ Als Zeitgenosse sorge er sich angesichts des gegenwärtigen Aufschwungs des Rechtsextremismus um die Zukunft der liberalen Demokratie in Deutschland und weltweit und merkt an: „Die Geschichte des Rechtsextremismus in der Bundesrepublik wurde lange vernachlässigt, auch weil neo-nazistische Tendenzen nicht in das Selbstbild einer sich demokratisierenden und in vieler Hinsicht erfolgreichen Demokratie passten. Heute wissen wir, dass gewalttätige und oft tödliche rechtsextreme Aktivitäten die gesamte Geschichte der Bundesrepublik durchzogen. Daran schließen auch die autoritären und rechtsextremen Bewegungen der Gegenwart an.“

Gefahr durch ideologische Ersatzreligionen

Am 21. März folgt Dr. Andreas Püttmann mit dem Online-Vortrag „Wie christlich ist Deutschland noch? Über die Konsequenzen einer Gesellschaft ohne Gott.“ Der Politikwissenschaftler, Publizist und Autor hält eine spezifisch deutsche Neigungen zum Ideologischen und Autoritarismus für möglich: „Weil wir immerhin das Land der Glaubensspaltung, des Marxismus-Leninismus und Nationalsozialismus sind. Werden metaphysische Bedürfnisse nicht mehr in der Hochreligion gestillt, die uns ja gerade abhanden zu kommen scheint, könnten ideologische Ersatzreligionen das Vakuum füllen. Das endet selten freiheitlich.“ Unabhängig vom 75. Jahresjubiläum der Bundesrepublik Deutschland sei das Thema Demokratie gerade jetzt wichtig, so Püttmann: „Weil im weltweiten Demokratie-Index des "Economist" (167 Staaten) die Zahl der "vollständigen Demokratien" seit 2006 von 28 auf 24 zurückgegangen ist und die der "unvollständigen" von 53 auf 50. Wir sehen diese anspruchsvolle Staatsform also in der Defensive. Und fast immer erfolgt der Angriff auf moderate, liberale politische Systeme heute von rechts.“

Mehr Bürgerbeteiligung

Die Politikwissenschaftlerin und Vorsitzende der Grundwertekommission der SPD Prof. Dr. Gesine Schwan ist von der Politikverdrossenheit im Land beunruhigt. Sie referiert zum Thema: „Die Zukunft der Politik liegt in den Kommunen. Wie wir unsere demokratischen Werte erhalten und weiterentwickeln“. Schwan möchte in ihrem Vortrag am 11. April aufzeigen, wie sich politische Bürgerbeteiligung positiv auf die Krise in der Demokratie auswirkt.

Gedanken zum „Mutmacher Grundgesetz“

Den Abschluss der Online-Serie am 2. Mai macht Thomas Gutknecht, Philosoph und Ehrenpräsident der Internationalen Gesellschaft für Philosophische Praxis. In seinem Vortrag „Einigkeit und Recht und Freiheit: Zumutungen und Ermutigung des Grundgesetzes“ fragt er nach dem Bindemittel namens Einigkeit in einer Zeit des Pluralismus, des Individualismus und der anwachsenden Fliehkräfte – und ob man die Einigkeit neben dem Recht und der Freiheit nicht mehr bräuchte. Für Gutknecht sei Demokratie eine Lebensform, die er mit Offenheit und Freiheit, mit Gleichheit und Rechtlichkeit, mit Teilhabegerechtigkeit, Solidarität und Geschwisterlichkeit verbinde, und das hänge nicht allein von Strukturen und einer Verfassung ab. Zur Bedeutung des Grundgesetzes sagt er: „Allerdings halte ich das Grundgesetz für einen ganz vorbildlichen Text – geboren aus den schlimmsten Erfahrungen einer Zeit, wo Deutsche sich schuldig gemacht haben, unter anderem auch, weil sie in der Mehrheit nicht politisch gebildet waren und kaum eine demokratische Tradition kultiviert worden war.“ Und er ergänzt: „Die Weltlichkeit des Christentums, dessen Menschenbild mit Demokratie ja kompatibel ist, angemessen zu denken, dies könnte ein Beitrag zur Stärkung der Demokratie(n) sein.“

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