Soziales

Empathie und Sorgfalt in Dilemma-Situationen

Zehn Jahre Netzwerk Ethische Fallbesprechungen: Dr. Joachim Reber, stellvertretender Vorsitzender des NEFB (von links), Geschäftsführer Martin Priebe, Prof. Dr. Toni (Janina) Loh, NEFB-Vorsitzende Pia Theresia Franke, Dr. Alfons Maurer, ehemaliger Vorsitzender, und Weihbischof Matthäus Karrer, Leiter der Hauptabteilung Pastorale Konzeption der Diözese Rottenburg-Stuttgart, richteten bei einem Festakt in Ulm den Blick nach vorne. Foto: drs/Jerabek

Die ethische Kompetenz von Fachkräften im Pflegealltag zu fördern, ist Ziel des Netzwerks Ethische Fallbesprechungen. Die Initiative feiert Jubiläum.

Wie sollen sich Pflegende verhalten, wenn Pflegebedürftige Hilfe ablehnen, wenn sie nicht essen oder das Bett nicht verlassen wollen, obwohl es möglich wäre? Was ist zu tun, wenn sich jemand selbst vernachlässigt? Ethische Fragen, oft in Dilemma-Situationen zwischen Autonomie und Selbstbestimmung einerseits, und Fürsorge und Sicherheit andererseits, gehören zum Alltag in Alten- und Pflegeheimen und anderen Hilfebereichen wie etwa der Behindertenhilfe. Solche Fragen im Konfliktbereich von Würde der Betroffenen und eigener Verantwortung zu lösen, wirkt sich für Pflegekräfte oft belastend aus. Mit der Gründung des Netzwerks Ethische Fallbesprechungen (NEFB) vor zehn Jahren ist eine Plattform entstanden, die dazu beiträgt, die ethische Kompetenz in Einrichtungen der katholischen Altenhilfe zu fördern und Fachkräfte im Gesundheitswesen moralisch zu entlasten. Das zehnjährige Bestehen des NEFB war Anlass zu Rückblick und Ansporn, wie Pia Theresia Franke, Vorsitzende des NEFB und Vorständin der Paul-Wilhelm-von-Keppler-Stiftung, bei einem Festakt in Ulm sagte. Es gehe darum, einen mutigen Ausblick in die nächsten Jahre zu wagen: Was kann, was soll, was wird das NEFB noch alles bewegen?

Modellprojekt in Regelbetrieb überführt

Das NEFB ist aus dem Modellprojekt „Ethische Fallbesprechungen und Ethikkomitees in der Altenhilfe der Diözese Rottenburg-Stuttgart“ (2011 bis 2014) hervorgegangen. Wissenschaftlich begleitet wurde das Projekt durch die Pflegewissenschaftlerin Prof. Dr. Annette Riedel von der Hochschule Esslingen. 2014 wurde es als Netzwerk, dem derzeit zwölf Trägerorganisationen der Altenhilfe sowie der Diözesancaritasverband angehören,in den „Regelbetrieb“ überführt. Es wird durch die Hauptabteilung Pastorale Konzeption der Diözese unterstützt. Das Netzwerk verfügt aktuell über 55 Personen, die zur Moderation ethischer Fallbesprechungen ausgebildet wurden; fast jährlich finden Schulungen statt. Seit 2017 organisiert das NEFB auch Fachtage und Exkursionen zu aktuellen Themen wie dem „Umgang mit
Todeswünschen“.

Eine von allen akzeptierte Handlungsoption im Alltag umsetzen

„Oberstes Ziel der ethischen Fallbesprechungen ist es, eine moralische, ethische Entscheidung über die weitere Behandlung einer pflegebedürftigen Person anzuleiten", sagte die NEFB-Vorsitzende. Dies erfordere „den Mut, schwierige Entscheidungen zu reflektieren, und die Offenheit, verschiedene Perspektiven anzuhören". Mit einem strukturierten, transparenten Vorgehen werden die Teilnehmenden pragmatisch angeleitet. „Konkretes Ziel für die Betroffenen eines Dilemmas ist es, eine von allen akzeptierte Handlungsoption im Alltag umzusetzen, um die vom Dilemma ausgehenden Störungen zu beseitigen oder zumindest zu verringern", heißt es im aktuellen NEFB-Bericht.

In den vergangenen zehn Jahren habe dieses Netzwerk wertvolle Arbeit geleistet, „indem es uns ermöglicht hat, ethische Fragestellungen nicht nur im pflegerischen Alltag mit Bedacht und Sorgfalt zu betrachten", sagte Pia Theresia Franke. Diese kontinuierliche Auseinandersetzung sei „nicht nur ein Zeichen für die hohe Qualität unserer Arbeit, sondern auch der Ausdruck eines tiefen Verantwortungsbewusstseins gegenüber den Menschen, die unserer Fürsorge und Sorge anvertraut sind“.

Intensiver ökumenischer Austausch

Die Offenheit des Netzwerks und den intensiven ökumenischen Austausch würdigte bei dem Festakt der Leiter der Abteilung Theologie und Bildung im Diakonischen Werk Württemberg, Martin Schwarz, in einem Grußwort: Seit 2017 werden das NEFB und seine Expertinnen und Experten immer wieder als Kooperationspartner zu ökumenischen Veranstaltungen wie den Bad Boller Ethik-Vernetzungs-Tagungen hinzugezogen. Schwarz äußerte sich sehr dankbar, „dass wir als Diakonie da mit zugreifen können". Dass die Bekanntheit des in dieser Form wohl einzigartigen Netzwerks weit über die Diözese Rottenburg-Stuttgart hinausreicht, liegt auch an dessen fachlicher Beratung. Prof. Dr. Toni (Janina) Loh vom Lehrstuhl für Angewandte Ethik an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg, sprach als Person mit Ethik-Expertise im NEFB über die Herausforderungen im Spannungsgefüge von Angewandter Ethik und Ethikarbeit und zeigte Möglichkeiten einer weiteren Qualifizierung und Vertiefung der Arbeit im Netzwerk auf.

Um gemeinsame ethische Werte ringen

Eine Einordnung aus pastoraltheologischer und religionssoziologischer Perspektive unternahm Weihbischof Matthäus Karrer, Leiter der Hauptabteilung Pastorale Konzeption der Diözese Rottenburg-Stuttgart. In einer zunehmend säkularen Gesellschaft, in der Glaube eine Option unter anderen ist und die primär religiöse Funktion von Kirche in der Wahrnehmung der Bevölkerung gegenüber ihrer sozialen Bedeutung tendenziell in den Hintergrund tritt, könne man nicht davon ausgehen, dass die ethischen Grundlagen, für die die christlichen Kirchen stehen, einfach geteilt werden. Es gelte, aus einer „Haltung institutioneller Demut“(wie die Erfurter Professorin Julia Knop formulierte) mit gesellschaftlichen Partnern nach den für Menschen besten Lösungen zu suchen und um gemeinsame ethische Werte zu ringen. Christen seien gefragt, deutlich zu machen, dass das menschliche Leben jenseits von Kosten-Nutzen-Analysen eine unantastbare Würde hat, so Karrer.

Eine Kirche, die echte Partnerschaft lebt

Das Netzwerk Ethische Fallbesprechungen sei „ein Beispiel für eine Kirche, die Augenhöhe, Vernetzung, gemeinsames Suchen und Ringen, institutionelle Demut, Glaube an den Menschen und echte Partnerschaft lebt und leben will", sagte der Weihbischof. Das Netzwerk stehe auch für eine Kirche, „die die säkulare Gesellschaft anerkennt und gleichzeitig ihre Chancen wahrnimmt", indem sie das christliche Menschenbild in den gesellschaftlichen Dialog einbringe „und in jeder Situation neu ringt, was dieses hier und jetzt bedeutet".

Eine weitere Perspektive für das Netzwerk könne neben dem stationären auch der ambulante Bereich sein. Denn auch Angehörige von alten Menschen, die zuhause betreut und gepflegt werden, seien mit ethischen Fragestellungen und Dilemma-Situationen konfrontiert, in denen sie unterstützt werden wollen. Im Namen der Kirchenleitung und der diözesanen Räte dankte Karrer den im NEFB Engagierten dafür, „dass Sie im Netzwerk diese Fragen hören und annehmen, dass Sie sich die Fragen stellen und jeweils um Antworten ringen, dass Sie auf Ihre Weise einen gesellschaftlichen Auftrag von Kirche wahrnehmen, dass Sie mit Ihrer Arbeit die Resilienz der Gesellschaft und ihrer Menschen in einer krisengeschüttelten Zeit stärken und dass Sie in alledem das Evangelium leben".

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