Seit einigen Tagen sorgt eine Projektion bei Menschen, die abends durch Mulfingen fahren oder gehen, für Aufmerksamkeit. An die Fassade der St. Josefspflege strahlt ein Beamer nach Einbruch der Dunkelheit eine Zahl, die von Tag zu Tag größer wird. In den Umrissen der Zahl sind Filmaufnahmen von Kindern zu sehen. Die Projektion erinnert an ein trauriges Kapitel in der Geschichte der Einrichtung.
„Mit der Projektion sorgen wir dafür, dass darüber gesprochen wird“, sagt Rainer Friedrich, Geschäftsführer der St. Josefspflege Mulfingen gGmbH. Die visuelle Komposition an der Hauswand leitet eine Gedenkaktion ein. Anlass ist der 80. Jahrestag der Deportation von 39 jungen Sinti aus dem Kinderheim St. Josefspflege am 9. Mai 1944 nach Auschwitz. Nur vier von ihnen überlebten damals, wie Friedrich erklärt. Alle anderen wurden in dem Konzentrationslager ermordet.
Historische Filmaufnahmen im Bundesarchiv
Ein Erlass des württembergischen Innenministeriums im Jahr 1938 hatte die St. Josefspflege als Heim für Kinder und Jugendliche aus Sinti-Familien bestimmt. Vor der Deportation hatte Eva Justin, Mitarbeiterin der von Robert Ritter geleiteten „Rassenhygienischen und bevölkerungsbiologischen Forschungsstelle“ Berlin, das Heim in Mulfingen besucht. Sie beobachtete und untersuchte die Kinder für ihre rassenideologische Dissertation.
Aus der Dokumentation zu ihrer Arbeit sind Einzelporträts einiger Kinder und insbesondere Filmaufnahmen erhalten. Die filmische Studie, die beim Bundesarchiv zu finden ist, zeigt Mädchen, wie sie mit einer der Schwestern des Heims im Kreis tanzen. Mädchen beim Kartoffelschälen oder Jungen beim Pflücken von Äpfeln sind ebenfalls zu sehen.
Gedenktafel an der Fassade
Seit den 1980er Jahren erinnert eine Gedenktafel an der Fassade der Josefspflege an die Deportation und das Schicksal der Kinder. In jenem Jahrzehnt setzte auch die Auseinandersetzung der Einrichtung mit ihrer Geschichte ein. Mit vorbereitender Unterstützung der Hochschule Esslingen entstand das Format „Erziehung nach Auschwitz“.
Die heutige St. Josefspflege Mulfingen gGmbH ist ein kirchlicher Träger der Jugendhilfe mit vollstationären Wohngruppen in Mulfingen und Heilbronn sowie teilstationären Gruppen. Zur St. Josefspflege gehört ebenfalls die Bischof-von-Lipp-Schule, die mit dem Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentrum und der Gemeinschaftsschule in Mulfingen zwei Schularten unter einem Namen vereint.
Den Dreh- und Angelpunkt der pädagogischen Auseinandersetzung mit den historischen Ereignissen bilden jährliche Fahrten der achten Klassen nach Auschwitz. „Die Schülerinnen und Schüler werden darauf eingehend vorbereitet“, sagt Friedrich. Drei Tage lang informieren sich die Jugendlichen nicht nur über das Konzentrationslager, sondern besuchen auch die Stadt Oświęcim (Auschwitz). Als Kontrastprogramm steht dann noch ein Tag in Krakau auf dem Programm.