Am Sonntag, 2. November, jährt es sich zum 25. Mal, dass in Deutschland das Gesetz zur Ächtung von Gewalt in der Erziehung in Kraft trat. Aus diesem Anlass sprechen Dorothee Heller und Leonie Johannes vom Bischöflichen Jugendamt/BDKJ Rottenburg-Stuttgart über ihre Erfahrungen beim Schutz von Kinderrechten.
Frau Johannes, Sie und Frau Heller sind beim Bischöflichen Jugendamt/BDKJ Rottenburg-Stuttgart als Kinderschutzfachkräfte tätig. Können Sie uns kurz beschreiben, worin Ihre Aufgabe besteht?
Wir arbeiten zum einen in der Prävention. Das bedeutet, wir sind Ansprechpartnerinnen für alle Kolleg:innen im Bereich Prävention und Intervention zum Kinderschutz und schulen diese. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Informationsweitergabe und Bereitstellung von Materialien. Zuletzt haben wir unsere Handlungsempfehlung ‚Was tun bei Verdacht auf Kindesmisshandlung, sexualisierte Gewalt oder Vernachlässigung‘ überarbeitet und aktualisiert. Darüber hinaus leisten wir Unterstützung in der Intervention und Beratung – sowohl für Kolleg:innen als auch für ehrenamtliche Gruppen- oder Freizeitleitungen bei Verdachtsfällen oder Vorfällen. Wir decken dies über unsere Kinderschutzhotline ab.
Vor 25 Jahren wurde das Recht auf gewaltfreie Erziehung gesetzlich verankert. Ist Ihnen dieses Datum ein Begriff und wie beurteilen Sie die Gesetzeslage. Ist sie ausreichend?
Das Datum war für mich nicht im Bewusstsein. Das Gesetz und die Wichtigkeit schon, zumal nicht nur die physische Gewalt, sondern auch seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen darin benannt sind, vor denen Kinder geschützt werden müssen. Leider zeigt die Erfahrung aber auch, dass ein Gesetzestext für den Schutz von Kindern und Jugendlichen nicht ausreichend ist. Wir erfahren durch unsere Beratungstätigkeit, dass Gewalt in der Erziehung in manchen Familien zu den normalen Erziehungsmethoden gehört. Die Gesetzeslage ist ausreichend, die Unterstützung für Eltern und Familien im Wissen darum ist eher nicht ausreichend.
Frau Heller, beobachten Sie heute eine größere Sensibilität gegenüber Kindeswohlgefährdung als in früheren Zeiten?
Bei unseren haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitenden beobachten wir eine deutlich größere Sensibilität für das Thema Kindeswohl und für Anzeichen einer Gefährdung. Das zeigt sich daran, dass sie Hinweise schneller erkennen und sinnvoll handeln. Gleichzeitig merke ich, dass die Gesellschaft zu diesem Punkt zwiegespalten ist: In manchen Bereichen besteht zu wenig Wissen, wodurch sich Ängste oder Panik schneller verbreiten. Unser Ansatz ist daher, sachliche Informationen, klare Handlungsempfehlungen und regelmäßige Schulungen bereitzustellen, um Unsicherheiten abzubauen und verantwortungsvolles Handeln zu ermöglichen.
Auch in katholischen Einrichtungen in Württemberg – etwa im Kinderheim St. Josef in Ludwigsburg – kam es leider zu Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. Was bedeuten Ihnen solche Fälle für Ihre Arbeit und wie beurteilen Sie die Situation in kirchlichen Einrichtungen heute?
Solche Fälle belasten unsere Arbeit und mahnen uns, noch entschlossener gegen Gewalt vorzugehen. Sie zeigen deutlich, dass auch kirchliche Einrichtungen Verantwortung tragen und transparent handeln müssen. Für Einrichtungen, die eine solche Geschichte mit Übergriffen im Gepäck haben, halten wir neben der individuellen Aufarbeitung eine strukturelle Aufarbeitung für zwingend erforderlich, um diese für die Zukunft gut aufzustellen. Von einer Kollegin im direkten Kontakt wissen wir: In geschlossenen Einrichtungen wie zum Beispiel dem Josefsheim in Ludwigsburg, helfen den Betroffenen Erinnerungsorte, die zusammen mit ihnen entwickelt werden. Auch das ist ein Teil des Wahrnehmens und Anerkennens: dass schwerwiegende Fehler gemacht wurden, aus denen es zu lernen gilt. Für die Jugendarbeit bedeutet das: Wir sind in vielen Bereichen gut aufgestellt, besonders in der Prävention, die wir weiter stärken. In unserer Organisation haben Schulungen einen Pflichtstatus, und von allen wird die Erarbeitung eines Schutzkonzepts eingefordert. Dadurch wollen wir Ressourcen, klare Abläufe und eine Kultur der Achtsamkeit schaffen, damit Kinder und Jugendliche sicherere Orte bei uns finden.
Was bedeutet ‚Kindeswohl‘ für Sie persönlich – jenseits der juristischen Definition?
Einem Kind soll es wohl ergehen. In erster Linie fällt der Blick da auf die nächsten Bezugspersonen, dass es Liebe und Geborgenheit von ihnen erfährt. Dass Missgeschicke oder vermeintliches Fehlverhalten nicht dazu führen, dass ein Kind erniedrigt wird. Ein Kind soll gute Möglichkeiten haben, aufzuwachsen, sich und seine Umwelt zu entdecken und – wie es auch in unserer Jugendverbandsarbeit ein wichtiger Bestandteil ist – auch Fehler machen zu dürfen und daran zu wachsen.
Und für Sie Frau Johannes?
Ich kann mich da Frau Heller sehr gut anschließen. Wichtig für mich ist. dass es Kindern und Jugendlichen gut geht. Dass sie gewaltfrei aufwachsen und sich mit ihren Potenzialen entfalten und entwickeln können.
Wo sehen Sie aktuell die größten Gefährdungen für Kinder und Jugendliche? Lässt sich das überhaupt sagen?
Es gibt nicht die eine größte Gefährdung; es gibt viele mögliche Gefahrenquellen. Die digitale Lebenswelt ist neu hinzugekommen und eröffnet weitere Anknüpfungspunkte für Gefährdungen. Zugleich wird die Gewalt unter Kindern und Jugendlichen selbst immer stärker ins Blickfeld gerückt – ein Thema, das zwar präsenter wird, aber keineswegs neu ist.
Eine große Gefahr sehe ich darin, dass Hilfe nicht greift, weil Personal fehlt oder überlastet ist. Wenn Fachkräfte fehlen oder ausgelastet sind, leidet die Qualität der Beratung, Prävention und Intervention. Ebenso problematisch ist der Mangel an Beratungs- oder Therapieleistungen für betroffene Kinder und Jugendliche.
Unter dem Druck von Sparzwängen im sozialen Bereich steigt damit das Risiko, dass notwendige Unterstützungsangebote nicht in ausreichendem Umfang bereitstehen. Es braucht daher verlässliche Ressourcen, klare Zugänge und eine nachhaltig finanzierte Struktur, damit Hilfe wirklich dort ankommt, wo sie gebraucht wird.
Würden Sie sich dem anschließen, Frau Heller?
Tatsächlich sehe ich im Digitalen eine doppelte Gefahr: Zum einen wissen Kinder und Jugendliche bei anonymen Kontakten im Netz nie sicher, wer ihr tatsächliches Gegenüber ist, und leider wird das Vertrauen von Kindern und Jugendlichen oft missbraucht. Zum anderen kann das Abtauchen in die digitale Welt auch eine Gefahr für die Gesundheit sein. Und trotz vieler digitaler Kontakte kann das Fehlen von echten Sozialkontakten zur Vereinsamung führen.
Prävention sexualisierter Gewalt ist ein zentrales Anliegen der kirchlichen Jugendarbeit. Woran lässt sich das im Alltag festmachen?
Im Alltag zeigt sich das durch regelmäßige Schulungen für Gruppenleiter: innen zu Gewaltschutz, Grenzverletzungen und verantwortungsvollem Umgang miteinander. Ebenso durch klare Schutzkonzepte und deren Umsetzung in der Praxis. Dazu kommt eine wachsende Sensibilität für Grenzfragen sowie respektvolle Kommunikation. Weiterhin durch das frühzeitige Aufsuchen von Beratung und Hilfsangeboten, oder wenn Verdacht auf Grenzverletzungen besteht. Zudem durch Transparenz, klare Meldewege und dokumentierte Vorgänge, um Vertrauen zu schaffen und Betroffene zu schützen. Und durch kontinuierliche Reflexion und Coaching, um Handlungssicherheit zu erhöhen.
Was sind aus Ihrer Sicht typische Anzeichen für Kindeswohlgefährdung, die ernst genommen werden müssen – auch wenn sie zunächst möglicherweise unspektakulär erscheinen?
Die Anzeichen von Kindeswohlgefährdung sind vielfältig und individuell verschieden. Sie reichen von körperlichen Hinweisen bis zu psychosomatischen Beschwerden und Verhaltensauffälligkeiten. Plötzliche Verhaltensänderungen sollten für mich immer Anlass sein, genauer hinzusehen und zu klären, was dahintersteckt. Es hilft, Kindern und Jugendlichen zuzuhören und auf die leisen Zwischentöne zu achten, um mehr zu erfahren und Kinder und Jugendliche ganzheitlich wahrzunehmen. Gleichzeitig ist es wichtig, auf das eigene Bauchgefühl zu hören, das eventuell sagt: ‚Irgendwas stimmt nicht.‘ Gemeinsam mit einer erfahrenen Fachkraft kann man dieses Gefühl prüfen und überlegen, welche nächsten Schritte sinnvoll sind und woher die Veränderungen kommen könnten.
Wie helfen die in der Diözese geltenden Schutzkonzepte aus Ihrer Sicht in der Praxis?
Wenn Schutzkonzepte der Einrichtungen und Träger in der Diözese gut gemacht sind, mit vielen Beteiligten erarbeitet wurden und nicht nur als reines Dokument im Ordner existieren, können sie ein sehr hilfreiches Instrument sein. Sie greifen auf unterschiedlichen Ebenen und bieten Orientierung: Sie geben Verantwortlichen in Ausnahmesituationen klare Anweisungen, wer informiert wird, wer mit wem welche Schritte unternimmt und wie der weitere Ablauf aussieht. Sie unterstützen Betroffene dabei, sich Hilfe zu holen, insbesondere wenn Nähe oder Abhängigkeiten zwischen Täter:in und verantwortlicher Person problematisch sind. Und sie schaffen Strukturen, Abläufe und Verantwortlichkeiten, damit schneller, transparenter und sicherer reagiert wird.
Frau Johannes, was könnte sich da aus Ihrer Sicht noch verbessern?
Leider werden Schutzkonzepte oft nicht partizipativ erarbeitet. Das führt dazu, dass die Inhalte nicht allen bekannt sind und somit das Konzept keine Anwendung findet. Ebenso wenig können die Einrichtungen und Beteiligten dann eine eigene Haltung im Sinne des Kinderschutzes entwickeln. Das ist nicht der Sinn und Mehrwert eines Schutzkonzeptes. Häufig gibt es Verfahrenswege, die aber keine Anwendung im Ernstfall finden, weil sich nicht alle Beteiligten über die Wichtigkeit der Verfahrensschritte im Klaren sind.
Viele und auch schwere Formen der Grenzverletzung ereignen sich heute im digitalen Raum – wie gehen Sie damit um?
Die digitale Lebenswelt ist ein wichtiger Teil bei jungen Menschen. Daher fließt die Thematik immer wieder in die verschiedenen Schulungsformate ein, wie zum Beispiel Vertiefungsschulungen für Hauptberufliche und Ehrenamtliche oder den digitalen Vernetzungstag für das Diözesane Präventionsnetzwerk am 13. November 2025. Prävention und Aufklärung sollen dazu dienen, die digitale Lebenswelt junger Menschen in den Blick zu nehmen, ohne diese pauschal zu verurteilen. Es geht um eine ganzheitliche Perspektive, die Grenzverletzungen ernst nimmt, aber auch einen gesunden und normalen Umgang in der digitalen Welt anerkennt. Ein Fokus liegt hierbei auf der jugendlichen Entwicklung von Sexualität. Sexualität, auch im digitalen Raum, ist in der Lebenswelt von jungen Menschen angekommen. Für Erwachsene, die in ihrer Jugend nicht damit aufgewachsen sind, können manche Aspekte schwer nachvollziehbar sein. Deshalb ist Aufklärung wichtig, um Verständnis zu fördern und eine sichere, respektvolle Nutzung des digitalen Raums zu ermöglichen.
Wie bereiten Sie ehrenamtliche Gruppenleiter:innen darauf vor, mit Verdachtsmomenten – gleich ob in der digitalen oder der tatsächlichen Welt – richtig umzugehen?
Zunächst vermittelt die Schulung den Ehrenamtlichen ein gutes Basiswissen und nötige Handlungsschritte. An oberster Stelle steht, dem Kind zu glauben. Weitere Schritte können die Ehrenamtlichen auch in der Handlungsempfehlung nachlesen. Besonders wichtig ist uns aber auch, dass die Ehrenamtlichen mit den Verdachtsmomenten und ihrem Handeln nicht alleine bleiben. Wir raten immer, Hauptberufliche mit hinzuzuziehen und dann gemeinsam mit einer Fachkraft weitere Schritte abzuwägen.
Was passiert, wenn tatsächlich ein Verdacht auf Misshandlung oder sexualisierte Gewalt besteht? Wer wird einbezogen und wie schützt man die betroffenen Kinder?
Der erste Schutz für das Kind ist es, ihm zu glauben. Damit kann es sich sicher fühlen und weiß, dass ihm an dieser Anlaufstelle geholfen wird. Es gibt ein Verfahrensschema, welches dann zur Anwendung kommt. Aber die Entscheidung ‚wer wird einbezogen‘ und ‚wie können betroffene Kinder weiter geschützt werden‘, ist eine sehr individuelle und hängt von vielen Faktoren ab. Wer ist die Person unter Verdacht? Kommt die Person aus der eigenen Familie oder ist es eine Person, die als Freizeitleitung Kontakt zum Kind hatte?
Zum Schluss: Was wünschen Sie sich – 25 Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes – für die nächsten 25 Jahre im Hinblick auf Kinderschutz und Prävention?
Es gibt in Deutschland Angebote, die dem Schutz von Kindern und Jugendlichen dienen. Leider sind diese nicht bei allen Personen bekannt. Fachkräfte müssen geschult sein, und es braucht personelle und finanzielle Ressourcen, um die Bedarfe der Praxis auch im notwendigen Maß decken zu können.
Und Frau Heller, was wünschen Sie sich in diesem Zusammenhang?
Gerade im familiären Kontext erhalten Eltern, wenn sie ein Kind bekommen, wenig Handreichung und direkte Unterstützung als Hilfestellung für ein gesundes Aufwachsen ihres Kindes. Es gibt Länder, in denen in den ersten sechs Lebensjahren eines Kindes personelle Unterstützung und Begleitung für Familien zum Standard gehören. Das halte ich für ein gutes und wünschenswertes Konzept.




