"Es gibt kein Schalom ohne Salam. Und es gibt kein Salam ohne Schalom", sagt Ordinariatsrätin Ute Augustyniak Dürr. Sie leitet die Hauptabteilung Schulen in der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Von 2004 bis 2010 lebte sie mit ihrer Familie in Beit Jala, nahe Betlehem, im Westjordanland. An der christlich-palästinensischen Schule Talitha Kumi unterrichtete Augustyniak-Dürr Deutsch und begleitete als Theologin interreligiöse Projekte. Als Mutter zweier Kinder, von denen eines in Israel zur Schule ging, das andere im palästinensischen Autonomiegebiet, war sie auf beiden Seiten der Mauer eng in die Schul- und Elterngemeinschaft eingebunden.
Im Interview spricht sie über die aktuelle Eskalation in Nahost, über ihr Leben in Israel und Palästina und über die Fassungslosigkeit, die sie angesichts des andauernden Leids der Menschen in dieser Region immer wieder erfasst.
Was empfinden Sie, wenn Sie die Nachrichten verfolgen?
Nach der ersten Schockstarre, der Fassungslosigkeit und dem Entsetzen ist es jetzt vor allem ein tiefes Mitgefühl mit den leidenden Menschen, den Menschen in Israel, den Geiseln, der unschuldigen Zivilbevölkerung von Gaza. Die Polarisierung, die derzeit in vielen Medien vorgenommen wird, ist nur ein hilfloser Versuch, die Lage für sich beherrschbarer zu machen, indem man wenigstens meint beurteilen zu können, wie Schuldige und Unschuldige einzuteilen und auf welcher Seite die Guten und auf welcher die Bösen sind. Für uns als Familie ist es schwer auszuhalten, dass wir ohnmächtig vor dieser schrecklichen Situation stehen und nichts als Traurigkeit fühlen darüber, was Menschen in diesem heiligen unheiligen Land angetan wird und was zu erleiden ist.
Sie haben lange in der Region gelebt. Wie beurteilen Sie die Lage?
In den sechs Jahren unseres Lebens mit zwei kleinen Kindern auf der Grenze zwischen Israel und den palästinensischen Autonomiegebieten von 2004 bis 2010, in der auch wir einen Gaza-Krieg erlebt haben, habe ich eines gelernt: Es zeigt sich immer noch einmal eine neue Wirklichkeit hinter der vordergründigen. Schon Israelis und Palästinenser als jeweils homogene Gruppe zu sehen ist falsch.
Wir müssen also genauer hinschauen?
Ja, so einfach, wie es sich viele derzeit machen, ist es leider nicht. Je differenzierter man hinschaut, je mehr Kenntnisse man hat, desto unüberschaubarer wird die Lage, desto mehr Facetten gibt es zu beachten: geopolitische, historische, wirtschaftliche, machtpolitische, ethnische, religiöse, psychologische. Oft blieb uns als Familie dort nur ein Kopfschütteln, wenn uns jemand mit einfachen Worten nach einem zweiwöchigen Besuch im Heiligen Land den Nahostkonflikt erklären wollte, den man vermeintlich „klar auf der Hand liegen“ sehe.
Lange war die Zwei-Staaten-Lösung – ein Staat Israel und ein Staat Palästina, beide mit eigenen Gebieten - das angestrebte Ziel. Ist diese noch zu verwirklichen?
Es ist zweifellos die wünschenswerteste Lösung. Aber angesichts des Flickenteppichs der wenigen verbliebenen palästinensischen Gebiete ist sie kaum noch zu realisieren. Es gibt ein weiteres Modell, die Ein-Staat-Lösung. Im Kleinen funktioniert das zum Beispiel in der Stadt Haifa, in dem arabische und jüdische Israelis einen paritätisch besetzen Stadtrat haben und ein friedliches Miteinander pflegen. Zu den politischen Lösungen und ihren jeweiligen Voraussetzungen und Bedingungen gäbe es viel zu sagen. In der aktuellen Situation gilt es zunächst zu handeln.
Aber was ist nun zu tun?
Man muss die Täter dieses Attentats finden und zur Rechenschaft ziehen. Gleichzeitig müssen alle Anstrengungen unternommen werden, die gefangengenommenen Geiseln zu befreien. Dazu kommt die Zivilbevölkerung von Gaza, die unschuldig ist und innerhalb der Mauern von Gaza keinerlei Chance hat, an einen sicheren Ort zu fliehen. Alle diese Aspekte gleichzeitig zu berücksichtigen ist so gut wie unmöglich. Das ist das Dilemma. Und am meisten leiden die Kinder auf beiden Seiten.