Demokratie

Freiheit und Demokratie sind keine statischen Gebilde

Ordinariatsrätin Karin Schieszl-Rathgeb und Dr. Sarah Köhler bei ihrer Arbeit für unsere Demokratie. Bild: DRS/ Nelly Swiebocki-Kisling

Wir feiern 75 Jahre Grundgesetz als Garant für Menschenwürde, Rechtsstaatlichkeit und Gleichheit in Deutschland.

Am 23. Mai 1949 wurde in der Schlusssitzung des Parlamentarischen Rates feierlich das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verkündet. Es verankert Menschenwürde, Rechtsstaatlichkeit und die Gleichheit aller Bürger: innen vor dem Gesetz und ist das bewährte Fundament unseres friedlichen Zusammenlebens in einem freien, demokratischen Rechtstaat. Nach der Zeit des Nationalsozialismus forderten die drei Besatzungsmächte Frankreich, Großbritannien und die USA die Ministerpräsidenten der elf westdeutschen Länder auf – der Osten war noch Teil der sowjetischen Besatzungszone – eine Verfassung zu erarbeiten. Nach dem Fall der Berliner Mauer und der Wiedervereinigung Deutschlands am 3. Oktober 1990 wurde das Grundgesetz zur gesamtdeutschen Verfassung. Heute wird unser Grundgesetz 75 Jahre alt – ein Grund zum Feiern.

Ein Interview mit Ordinariatsrätin Karin Schieszl-Rathgeb, Leiterin der Hauptabteilungen Kirche, Gesellschaft und Medien und Dr. Sarah Köhler, Referentin für Gesellschaftspolitik und Demokratieförderung in der Diözese Rottenburg-Stuttgart.

Frau Schieszl-Rathgeb, wie feiern Sie den Geburtstag unseres Grundgesetzes?

Als Diözese feiern wir gemeinsam mit einem breiten Bündnis an Organisationen und Verbänden die Demokratie am 8. Juni. Um 12 Uhr geht’s los am Schlossplatz in Stuttgart. Ich werde dabei sein und mich äußern. Es ist wichtig, dass wir am Vortag der Kommunal- und Europawahlen als katholische Stimme stark und öffentlich gegen Rechtsextremismus und für einen gesellschaftlichen Zusammenhalt in Europa auftreten. Das gibt uns die Möglichkeit, gemeinsam mit anderen Akteur: innen den demokratischen und menschenfreundlichen Geist zu stärken und so zu zeigen: Wir sind mehr!

Was bedeutet das Grundgesetz für unsere Gesellschaft und für die Kirche?

Eine Verfassung ist die Basis für das Zusammenleben in einer Gesellschaft und das Grundgesetz gilt für unsere gesamte Gesellschaft, unabhängig von Glauben und Religion. Noch immer sind über 40 Prozent der Menschen in Deutschland Mitglied einer christlichen Kirche. Insofern tragen wir Verantwortung und gestalten unsere Gesellschaft maßgeblich mit. Die aktuelle zivile Bewegung und die vielen Demonstrationen gegen die völkisch-nationalen Rechten, an denen viele Christinnen und Christen teilnehmen, zeigen, wie wichtig es uns ist, unsere freiheitliche Demokratie zu schützen.

Frau Köhler, hat das Grundgesetz eine Relevanz für Ihre Arbeit für die Diözese?

Ich beziehe mich täglich darauf und finde es zum Beispiel spannend, dass das allgemeine Freiheitsrecht, Art. 2 GG, die Basis bildet, dass das Bundesverfassungsgericht 2021 entschied: Klimaschutz ist Menschenrecht. Freiheit, Demokratie, Grundgesetz und intakte Lebensgrundlagen gehören eng zusammen und ganzheitliche Nachhaltigkeit ist ein Basisthema der Abteilung Kirche und Gesellschaft. Freiheit ist ohne sauberes Wasser, die Abwesenheit von Krieg und stabilen Ökosystemen undenkbar, das hat das Gericht auch so gesehen. Es gibt zudem Überlegungen zu einer Weiterentwicklung des Grundgesetzes und einer Ökologisierung unserer Verfassung. Da muss man sich schon fragen, warum das bestimmte Regierungsparteien, die den Freiheitsbegriff hoch halten, nicht verstehen und aktiv Klima- und Sozialpolitik ausbremsen.

Frau Schieszl-Rathgeb, wie fördert das Grundgesetz den Dialog zwischen den Religionen? Spielt die Theologie eine Rolle im Grundgesetz?

Ich würde die im Grundgesetz verankerte Glaubens- und Religionsfreiheit theologisch deuten. Und bereits die Präambel des Grundgesetztes beginnt mit: „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen.“ Das ist ein wunderbar theologisch formulierter Satz. Dass das Menschenbild und das Politikverständnis unserer Gesellschaft ihren Ursprung im jüdisch-christlich-hellenistischen Weltbild haben, zeigt sich dann an vielen Stellen unseres Grundgesetzes. Bereits Artikel 1 unseres Grundgesetzes betont die unveräußerliche Würde des Menschen, die wir nach jüdisch-christlichem Verständnis von dem Gedanken ableiten, dass wir Menschen als Geschöpfe Gottes sein Abbild sind. Dies gilt es zu schützen, vom Anfang bis zum Ende des Lebens. Die unantastbare Würde ist dann die Grundlage für alle folgenden Artikel. Von der biblischen Schöpfungserzählung leitet sich auch die Gleichheit von Frau und Mann ab, die der Apostel Paulus an vielen Stellen in seinen Briefen formuliert hat. Was damals noch binär gedacht war, gilt selbstverständlich auch für alle anderen Geschlechteridentitäten.

Warum ist das Grundgesetz auch für uns als Kirche wichtig, Frau Köhler?

Anfangs haben sowohl die katholische als auch die evangelische Kirche die Menschenrechte sehr kritisch betrachtet. Das hat sich geändert. Für die gesellschaftspolitische Arbeit der beiden Kirchen sind die Grund- und Menschenrechte heute grundlegend und unverhandelbar. Ob das für die Weiterentwicklungen wie geschlechteridentitäre Rechte auch gelten wird, bleibt spannend. Ich würde sagen, es ist Work in Progress.

Weshalb ist es wichtig, auch in Hinblick auf unser Grundgesetz, zur Europawahl zu gehen? Welche Gefährdungen sehen Sie für das Grundgesetz momentan?

Die Festlegung des Grundgesetzes auf Basis der Menschenrechte ist eine internationale Antwort auf die Verbrechen der deutschen NS-Zeit. Wir dürfen nicht vergessen, dass Freiheit und Gleichheit nicht selbstverständlich sind. Man muss sich aktiv dafür entscheiden diese Werte zu wahren - und das auch auf dem Stimmzettel. Wenn wir das Grundgesetz schützen, schützen wir unsere Demokratie. Und wenn wir die Demokratie in Europa schützen, dann schützen wir unseren Frieden. Die Demokratie ist aber kein statisches Gebilde, sie braucht  ständig neue Lösungen für die Herausforderungen unserer Zeit und die sind komplex. Dazu kommt, dass das Grundgesetz, ausgehend von der Menschenwürde, die für alle gilt, die Vielfalt voraussetzt. Die Rechtsextremen gehen jedoch in ihrer Ideologie weg von der Vielfalt und hin zu einer Vereinheitlichung und von einer nationalen Verteidigung von Privilegien, die auch Minderheiten an den Rand drängt.

Frau Schieszl-Rathgeb, auf einer der letzten Demos hier in der Region haben Sie gesagt: „Christsein und AFD wählen, das ist unvereinbar“, wie meinen Sie das?

Nehmen wir die Idee von der Gottebenbildlichkeit und Menschenwürde ernst, dann gelten diese für jeden Menschen. Das ist so auch im Grundgesetz verankert. Wir als Diözese nehmen das sehr ernst und lehnen jede Form der Ausgrenzung und des Extremismus ab. Rechtsextremistische Äußerungen zielen fundamental auf Ausgrenzung und Lagerbildung. Im nationalistischen Denken wird die gleiche Würde aller Menschen abgesprochen und ist nicht Basis des politischen Programms. Das ist ein riesiger Rückschritt für die menschliche Gemeinschaftsidee und die Demokratie. Für uns ist aber klar, jeder Mensch hat diese Würde. Wir sind Teil einer vielfältigen globalen Gemeinschaft und tragen für diese auch Verantwortung.

Frau Köhler, Menschenrechte entwickeln sich weiter, wie die aktuellen Bestrebungen, das Recht auf eine gesunde Umwelt im Grundgesetz zu verankern. Was meinen Sie dazu?

Mit der Agenda 2030 ist die Idee „Gesund leben auf einer gesunden Erde“ Teil der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie, aber nicht Teil unseres Rechts und der Verfassung. Das schlägt der Wissenschaftliche Beirat globale Umweltveränderungen der Bundesregierung (WBGU) vor. Das wäre insofern eine Stärkung des Menschenrechts, als dass weitere Klimaklagen individuell einreichbar wären. Im Sinne der demokratischen Ermächtigung für eine ganzheitliche Nachhaltigkeit begrüße ich diese Idee. Recht und Demokratie sind nicht statisch, ich befürworte konstruktive Weiterentwicklungen. Beispielsweise finde ich es gut, dass zur Europawahl auch Jugendliche im Alter von 16 Jahren ihr Grundrecht wahrnehmen können und damit die eigene Zukunft mitgestalten. Gleichzeitig wäre es bereits ein riesengroßer Fortschritt, die bestehenden Menschenrechte in globaler Verantwortung auch für jeden Menschen umzusetzen.

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