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Für Menschenrechte in der Migrationspolitik

Bei den Hohenheimer Tage zum Migrationsrecht sprachen Expert:innen zum aktuellen Thema Migration. Über 300 Gäste folgten der Einladung der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Foto: Dr. Daniel Meier, Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart

Beim 40-jährigen Jubiläum der renommierten „Hohenheimer Tage“ diskutierten in der Akademie ca. 300 Teilnehmende aktuelle Fragen zum Migrationsrecht.

Bereits zum 40. Mal fanden am Wochenende (2.-4. Mai) die „Hohenheimer Tage zum Migrationsrecht“ in Stuttgart statt, die wohl bedeutendste migrationsrechtliche Veranstaltung in Deutschland. Vertreter:innen aus Justiz, Kirche, Zivilgesellschaft, Wissenschaft und nationaler wie europäischer Politik diskutierten miteinander aktuelle migrationspolitische Entwicklungen. In diesem Jahr standen die Beratungen auch unter dem Zeichen der politisch angekündigten „Migrationswende“.

Kirche will für weltweite Gerechtigkeit eintreten

„Gerade in Zeiten, in denen die Rechte von Migrant:innen neu erstritten und verteidigt werden müssen, stellen die Hohenheimer Tage einen unverzichtbaren Ort der fachlich fundierten Debatte dar“, erklärte der Bischof der Diözese Rottenburg-Stuttgart, Dr. Klaus Krämer, in seiner Eröffnungsansprache. Laut Krämer lassen sich die großen Fragen der Migration nicht nationalstaatlich denken und lösen. Und so wenig der Mensch mit wachsender Entfernung an Würde verliere, so wenig könne sich der Anspruch der Kirche auf die Grenzen des eigenen Nationalstaats beschränken. Generell gehe es darum, global zu denken, Fluchtursachen anzugehen und für weltweite Gerechtigkeit einzutreten, sagte der Bischof, der neben Theologie auch Jura studiert hat.

Diözese ist ohne Migration nicht vorstellbar

Auch die Diözese sei ohne Migration nicht vorstellbar, erläuterte Krämer – so besitzt etwa ein Viertel ihrer Katholik:innen einen ausländischen Pass; die Menschen kommen aus 182 unterschiedlichen Nationen. „Sie bereichern unseren Lebensraum und unseren Glauben mit der Vielfalt ihrer Bräuche, ihrer Frömmigkeitskulturen und religiösen Ausdrucksformen“, erklärte der Bischof. Migration sei Kern des christlichen Selbstverständnisses, so gehöre die soziale Sorge für Menschen auf der Flucht und Fremde zum Grundbestand des christlichen Ethos.

Kirche muss sich klar und eindeutig zu Wort melden

Wie sehr der Schutz und die Würde des Einzelnen jedoch immer wieder von Neuem erstritten, verteidigt und ausgehandelt werden müsse, zeige sich eindrücklich an den migrationspolitischen Diskussionen der letzten Wochen und Monate, in denen selbst das individuelle Recht auf Asyl per se in Frage gestellt werde: „Wenn es ans ‚Eingemachte‘, an den Kern des eigenen Glaubens geht, muss sich Kirche klar und eindeutig zu Wort melden. Hier können wir nicht schweigen, sonst würden wir unserem Auftrag als Christ:innen nicht gerecht“, sagte Krämer.

Bibel voll von Migrationsgeschichten

Auch Ute Losem, stellvertretende Leiterin des Kommissariats der deutschen Bischöfe (Berlin) verwies darauf, dass bereits die Bibel voll von Migrationsgeschichten sei und sich daraus ein gesellschaftspolitischer Auftrag der Kirchen ergebe. Insbesondere setze sich die Kirche für das Recht auf Familienzusammenführung ein.

Bekenntnis zur Weltoffenheit Deutschlands

Kontrovers diskutiert wurde der jüngst veröffentlichte Koalitionsvertrag der künftigen Bundesregierung. Der Vorsitzende des Sachverständigenrates für Integration und Migration, Prof. Dr. Winfried Kluth (Berlin) würdigte das Bekenntnis zur Weltoffenheit Deutschlands, die beabsichtigte Stärkung von individueller Integration und rechtlich-organisatorischem Rahmen und die Umsetzung eines gemeinsamen europäischen Asylsystems. Das „Handeln nach Regeln“ sei ein wichtiger Aspekt. „Wenn man es gut macht, kann es durchaus gut werden, es kommt aber auf die konkrete Ausgestaltung an“, erklärte Kluth. Der Jurist von der Universität Halle stelle aber in Frage, ob die Verwaltungen über genügend Kapazität zur Umsetzung verfügten.

Zusammenspiel von Rechten und Pflichten

Wie andere Referierende der Tagung auch, kritisierte der grüne EU-Abgeordnete Erik Marquardt (Brüssel) die von der neuen Bundesregierung geplanten Zurückweisungen Asylsuchender an den deutschen Grenzen. So seien bereits die begonnenen Grenzkontrollen im Schengenraum unzulässig und nur in klaren Notzeiten gestattet. „Da können auch nicht zwei EU-Staaten gemeinsam europäisches Recht aushebeln“, erklärte Marquardt. Hinsichtlich der von der Koalition forcierten Integration sei es zudem problematisch, wenn diese stärker als „staatliche Belohnung“ denn als Zusammenspiel von Rechten und Pflichten eingestuft werde.

CDU-Abgeordneter fordert Begrenzung der Migration

Für eine klare Begrenzung der Migration sprach sich der CDU-Bundestagsabgeordnete Alexander Throm (Berlin) aus. „Wir befinden uns in Deutschland derzeit in einer klaren Überlastungssituation und müssen alle rechtlichen Möglichkeiten ausschöpfen, sie zu beenden“, erklärte Throm. Nur durch eine Reduzierung der Zahl an Asylsuchenden könnten sich die Behörden angemessen um das Thema Integration kümmern. Entsprechend müsse frühzeitig und klar getrennt werden zwischen Menschen, die eine Bleibeperspektive haben und jenen, die kein Bleibeperspektive besitzen.

Asylrecht ist existenziell gefährdet

Auch Prof. Dr. Daniel Thym von der Universität Konstanz plädierte für eine klare Steuerung der Migration. „Wir hatten vor 20 Jahren noch Handlungsspielräume, die wir heute nicht mehr haben“, sagte der Wissenschaftler. Notwendig sei eine „reformatorische Transformation“, da ansonsten das Asylrecht existenziell gefährdet sei. Es könnte ansonsten bald zu einer Entscheidung zwischen einem Weiter-So und der reaktionären Abschaffung des Asylrechts kommen, wie sie derzeit in den USA praktiziert werde. Zugleich hob Thym die notwendige Differenzierung zwischen der legitimen Debatte über das Schutzniveau und einer grundlegenden Infragestellung des Anspruchs auf Asyl hervor. Thym unterstützte die angekündigten Maßnahmen im Koalitionsvertrag („es wird gemacht, was wir machen können“), räumte aber zugleich ein, dass grundlegende Änderungen rechtlich kaum möglich seien. Entsprechend konzentriere sich die Politik bei der „verzweifelten Suche nach rechtlichen Möglichkeiten“ zum Beispiel auf einen Bereich wie die Familienzusammenführung.

„Vermenschenrechtlichung des Migrationsrechts"

Nele Allenberg vom Deutschen Institut für Menschenrechte (Berlin) warf dem öffentlichen Diskurs über Migration vor, einseitig Ängste zu schüren und warnte vor einer vorschnellen Infragestellung von Grundrechten und dem einkalkulierten Rechtsbruch als politischem Instrument. Das Publikum pflichtete ihr bei: Die „Vermenschenrechtlichung des Migrationsrechts" sei eine große kulturelle Leistung, hieß es in einer Wortmeldung aus dem Kreis der ca. 300 Teilnehmenden. Die erklärte Wertschätzung des Rechtssystems könnte dabei auch ein verbindendes Element von liberalen und konservativen Positionen in der Auslegung der Migrationsrechts sein, hieß es von anderer Seite.

Syrien - Sicherheitslage komplex

Neben der Diskussion grundlegender Fragen des Migrationsrechts ging es auch um konkrete Herausforderungen wie z.B. die Lage in Syrien. Eindrucksvoll berichtete die Journalistin und Sachbuchautorin Kirstin Hellberg von ihrer jüngsten Reise in das Land, wenige Monate nach dem Sturz von Diktator Assad. Insgesamt sei die Sicherheitslage komplex und durch lokale Gewalt und Racheaktionen bedroht. „Die Hauptverantwortlichen müssen zur Rechenschaft gezogen werden: Ohne ein Gefühl von Gerechtigkeit können sich die Menschen nicht aussöhnen“, bilanzierte Hellberg. Anstelle die in Deutschland lebenden Syrer:innen vorschnell zur Ausreise aufzurufen, gelte es, die Exilgemeinschaft durch deren Beziehungen in die Heimat als „Potenzial für die Stabilisierung des Landes“ anzuerkennen. Roland Bank vom Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) (Berlin) plädierte für die Erlaubnis, sich vorab in Syrien ein Bild der Lage zu machen, ohne den Schutzstatus zu verlieren.

Verurteilung durch das „Weltrechtsprinzip“

Eindringlich bat der syrische Rechtsanwalt Anwar Al-Bunni darum, Syrien nicht sich selbst zu überlassen. Der Menschenrechtsaktivist war in einer Berliner Erstaufnahmeeinrichtung 2014 seinem früheren Folterer begegnet, der später in einem aufsehenerregenden Prozess durch die bundesdeutsche Justiz zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Neben Al-Bunni sollen unter seiner Aufsicht mindestens 4.000 Menschen gefoltert und 58 von ihnen ermordet worden sein. Möglich wurde die Verurteilung durch das „Weltrechtsprinzip“, nach dem in Deutschland seit 2002 auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit verfolgt werden können, die im Ausland verübt wurden, auch ohne Deutsche als Täter oder Opfer.

Binnenflüchtlinge aufgrund von Dürren

Diskutiert wurde im Plenum auch das Phänomen der Klimamigration. Für die Arbeit des UNHCR bringe der Klimawandel mit seinen ansteigenden Temperaturen und zunehmenden Extremwetterlagen neue Herausforderungen mit sich, berichtete Friederike Foltz (Berlin). So seien z.B. die bislang verwendeten Zelte oft nicht mehr witterungsbeständig. Auch Dr. Jacob Schewe vom Potsdam Institute for Climate Impact Research verwies auf das Potenzial des Klimawandels, Konflikte auszulösen, die dann ihrerseits die Ursache für Migration seien. Entsprechend sei die Reduzierung der weltweiten Emissionen eine wichtige Maßnahme, um die Zahl an Fluchtbewegungen zu reduzieren. Und so wie es auf dem afrikanischen Kontinent aufgrund von Dürren eine wachsende Zahl an Binnenflüchtlingen gebe, sei bereits jetzt eine europäische Bewegung aus südlichen Ländern nach Mitteleuropa erkennbar – auch wenn sich die betroffenen Menschen oft nicht explizit als Klimaflüchtlinge sehen würden.

Gemeinsames Europäisches Asylsystem

Am Sonntagvormittag wurde nach einem Gottesdienst zunächst auf den aktuellen Stand der Implementierung der GEAS-Reform („Gemeinsames Europäisches Asylsystem“) in Deutschland eingegangen und die damit einhergehenden Bedenken diskutiert. Beate Gminder, amtierende Generaldirektorin Migration und Home Affairs bei der Europäischen Kommission (Brüssel) betonte dabei die Bedeutung der Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten uns erklärte: „Es funktioniert nur, wenn Außen- und Innenstaaten mitwirken.“ Sie verwies zudem auf die Notwendigkeit, auf Russlands hybride Kriegsführung an der belarussischen Grenze zu reagieren: Geflüchtete würden gezielt an die EU-Grenze gebracht, um Europa dadurch „sicherheitspolitisch zu untergraben“. Wie andere Referierende auch plädierte sie dafür, die Zugangswege legaler Migration zum Beispiel in Indien oder Bangladesch zu erleichtern, räumte aber ein, dass dies ein sehr mühsamer und langwieriger Prozess sei. Auch sei die illegale Arbeit weiterhin ein zu großer Migrationsfaktor, um nach Europa zu kommen und müsse stärker bekämpft werden. Gminder ging auch auf die Verhandlungserfolge für die Behandlung vulnerabler Gruppen, den Zugang zu Verfahrensberatung und das Grundrechtemonitoring ein.

Wiebke Judith von Pro Asyl (Berlin) kritisierte mit Blick auf Länder wie Polen, Österreich, aber auch hinsichtlich der deutschen Pläne die aktuelle Missachtung europäischen Rechts und hinterfragte entsprechend kritisch die grundsätzliche Implementierung und das künftige Zusammenwirken der Europäischen Union im GEAS. Bei aller notwendigen Kritik an der GEAS-Reform (z.B. kürzere Rechtsmittelzeiten oder restriktivere Unterbringungsregelungen) wäre es zumindest ein Fortschritt, wenn sich wenigstens alle europäischen Staaten an das EU-Recht halten würden.

Strategien zur Stärkung des Schutzes vor rassistischen Vorfällen

Ferda Ataman, Unabhängige Bundesbeauftragte für Antidiskriminierung (Berlin) und Prof. Dr. Mehrdad Payandeh von der Bucerius Law School (Hamburg) diskutierten abschließend Herausforderungen und Strategien zur Stärkung des Schutzes vor rassistischen Vorfällen. Beider Befund: Im europäischen Vergleich ist Deutschland beim Antidiskriminierungsschutz vergleichsweise schlecht aufgestellt, trotz oder wegen seiner nationalsozialistischen Vergangenheit. So sei die Grundhaltung verbreitet, dass es angesichts des besonderen deutschen Kontexts keine Notwendigkeit für zusätzliche Maßnahmen gebe, erklärte Ataman. Laut Payandeh reichten die Lücken von mangelnder Sensibilisierung der deutschen Justiz für den Rassismus bis zum Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz. Angesichts zunehmender rechtspopulistischer und rechts extremistischer Tendenzen müsse am Schließen dieser Lücken weitergearbeitet werden, so die beiden Referierenden.

Menschenrechtliche Errungenschaften geraten ins Wanken

Eine Vielzahl weiterer Themen wurde in einzelnen Foren besprochen: Das Spektrum reichte vom ökumenischen Migrationswort der Kirchen aus dem Jahr 2021 und den Perspektiven ukrainischer Flüchtlinge über Fragen der Familienzusammenführung und der Abschiebehaft bis hin zur migrantischen Kriminalität und der Fachkräftegewinnung.

„Während weltpolitisch nicht weniger als der internationale Frieden und die Zukunft der so genannten westlichen Wertegemeinschaft mit den USA auf dem Spiel steht, geraten auch in Europa wesentliche menschenrechtliche Errungenschaften unserer Nachkriegsordnung ins Wanken – in kaum einem Feld so verdichtet wie auf dem Feld der Migrationspolitik“, resümierte Dr. Konstanze Jüngling, Leiterin des Fachbereichs Migration und Menschenrechte an der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart. „Die so genannten westlichen Werte von Demokratie und Menschenrechten werden letztlich nur dann Bestand haben, werden sich nur dann gegen autokratische Einfallstore behaupten können, wenn diese Werte konsistent umgesetzt und mit Leben gefüllt werden.“

Zum Hintergrund:

Die Hohenheimer Tage, organisiert vom Fachbereich Migration und Menschenrechte der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart und einem breiten Tagungsleitungsteam, werden seit Beginn mitgetragen von den beiden kirchlichen Wohlfahrtsverbänden Caritas und Diakonie sowie vom DGB-Landesbezirk. An der jährlich stattfindenden Tagung nehmen Fachleute aus Politik, Verwaltung, Rechtsprechung, Wissenschaft, Medien, Kirchen, Wohlfahrtsverbänden, NGOs und Gewerkschaften aus dem In- und Ausland teil. Dabei haben die Tagungen das Ziel, Räume für Fachkräfte zu eröffnen, in denen wissenschaftliche, politische und gesellschaftliche Entwicklungen diskutiert werden. Mit einem Bekenntnis zur Genfer Flüchtlingskommission, zur Europäischen Menschenrechtskonvention und zu den Grundrechten der Europäischen Union richtet sich das Interesse auf eine humanitäre und menschenrechtsorientierte Ausgestaltung dieses Politikbereiches. Vieles, was bei den Hohenheimer Tagen in seiner Geschichte diskutiert und angestoßen wurde, hat Eingang in rechtliches und rechtspolitisches Handeln gefunden.

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