Frau Polnik, wie kam es zur Partnerschaft zwischen dem Dietrich Bonhoeffer Gymnasium und der Kirchengemeinde St.Bonifatius in Metzingen?
Als ich 1999 Verbindungslehrerin an unserer Schule wurde, bestand in der Schülermitverwaltung schon seit längerer Zeit ein ‚Arbeitskreis Weltverbesserung‘. Von den engagierten Schüler:innen wurde ich gefragt, was ich an ihrer Stelle tun würde, um die Überzeugung ‚Eine andere Welt ist möglich‘ in Handeln umzusetzen. Im Spaß habe ich geantwortet: ‚Machen wir doch eine SMV-Fahrt nach Brasilien, dort kenne ich Menschen, die sich organisieren, um für Gerechtigkeit und gegen Hunger zu kämpfen.‘ Aus dem Spaß wurde Ernst, und heute ist Ernst 25 Jahre alt. Ich habe die Gruppe der neun SMV-Aktiven zwei Jahre lang vorbereitet und 2002 fand – zusammen mit meinem Kollegen Hauke Petersen – die erste Bildungsreise in die Stadt Cáceres im Bundesstaat Mato Grosso statt, wo ich 1989 in einer Basisgemeinde gearbeitet hatte.
Was war für Sie der Anstoß, das Brasilienprojekt zu initiieren?
Es gab zwei Anstöße: Erstens, dass wir bei dieser ersten Reise die ersten Anfänge des Gonçalinho-Projekts kennengelernt haben. Ein paar Jugendliche und Mütter haben sich zusammengetan, um die Kinder ihres Stadtviertels ehrenamtlich zu betreuen, damit sie nicht länger zuhause eingesperrt werden müssen. Das war und ist leider gängige Praxis bei allen, die sich keine private Betreuung leisten können, um ihre Kinder vor den Gefahren der Straße zu bewahren, die von Jugendbanden und Drogenhandel dominiert wird. Dieses Projekt hat uns überzeugt und wir wollten es weiter unterstützen. Der zweite Anstoß war, dass wir gemeinsam zu der Ansicht gekommen sind, dass es unserer Auffassung von globaler Gerechtigkeit widersprechen würde, wenn unsere Jugendbegegnung eine Einbahnstraße bleiben würde. Deshalb haben wir im Jahr darauf die Jugendlichen, die im Gonçalinho-Projekt engagiert waren, nach Metzingen eingeladen. Daraus ist ein regelmäßiger Jugendaustausch entstanden, der alle anderthalb Jahre stattfindet.
Seither sind rund 25 Jahre vergangen. Welche Rolle haben Sie heute noch im Gesamtprojekt und beim Verein Pro-Gonçalinho?
Ich bin weiterhin die Projektleiterin und organisiere die Jugendbegegnungsfahrten und unsere zwei FSJ-Stellen in Cáceres, könnte aber diese Arbeit nicht ohne die Unterstützung meiner Kolleg:innen und unserer Rückkehrer:innen aus dem FSJ leisten. Diese haben 2018 den gemeinnützigen Verein Pro-Gonçalinho gegründet, um ihrem Rückkehrer-Engagement einen Ort und eine Struktur zu geben. Sie unterstützen mich mit Übersetzungsarbeit während der Jugendbegegnungen, helfen bei der Vorbereitung und Betreuung der aktuellen Freiwilligen und organisieren Fundraising-Aktionen in Metzingen. Auch die Mitarbeiterinnen der Bonifatiusgemeinde – Trägerorganisation unserer zwei Einsatzstellen und des Jugendaustauschs – sind sehr hilfreich und ich bin froh über unsere gute Kooperation. Auch in Brasilien haben sich unsere Partner:innen in einem gemeinnützigen Verein organisiert, so dass sich meine Rolle im Gonçalinho-Projekt zunehmend auf die einer Moderatorin und Ratgeberin beschränkt und ich immer weniger aktiv in die Prozesse dort eingreife.
Wie kam es dazu, dass Sie in Mato Grosso aktiv wurden und nicht an einem anderen Ort?
Nachdem ich im Theologiestudium die lateinamerikanische Befreiungstheologie zum Beispiel bei Professor Greinacher in der Theorie kennenlernen durfte, wollte ich sie nach meinem Vordiplom auch in der Praxis erfahren. Über die kirchliche Partnerschaft meiner Heimatgemeinde mit der Gemeinde in Cáceres in Mato Grosso habe ich 1989 ein Jahr lang dort gearbeitet. Da der damalige Priester und auch einige Nonnen in der Menschenrechtsarbeit der Basisgemeinde aktiv waren, konnte ich tief in die befreiungstheologische Praxis eintauchen, Religion und Kämpfe um die soziale Frage ganz selbstverständlich miteinander zu verbinden. Die Freundschaften, die in dem Jahr entstanden sind, tragen noch heute unsere Partnerschaft.
Was sind für Sie die wichtigsten Ziele bei Ihrer Arbeit dort?
Ich möchte drei Ziele nennen: Erstens wollen wir den Teilnehmer:innen unseres Austausches Erfahrungsräume eröffnen, in denen sie erfolgreichen Einsatz für eine bessere Welt kennenlernen. Denn da uns mit den verschiedenen sozialen und Umweltbewegungen der Region eine lange Geschichte verbindet, können die Jugendlichen erleben, wie die Menschen sich gegen die Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen einsetzen, wie sie ökologische Landwirtschaft dem vorherrschenden Modell des Agrobusiness entgegensetzen und wie indigene Gemeinschaften um ihre Rechte kämpfen. Zweitens wollen wir mit unseren zwei Einsatzstellen im Gonçalinho-Projekt jungen Menschen aus Deutschland ermöglichen, ein Jahr ihres Lebens über den Tellerrand unserer saturierten Gesellschaft hinauszuschauen. Drittens wollen wir durch das Fundraising-Engagement der Brasilien-AG die Arbeit unserer brasilianischen Partner:innen mit den Kindern in Cáceres ermöglichen.
Mit dem weltkirchlichen Reverse-Programm begrüßen Sie auch in Metzingen regelmäßig Jugendliche aus Brasilien. Wie viele kamen so bislang nach Deutschland und wo können die portugiesischsprachigen Jugendlichen beschäftigt werden?
Es kamen schon sechs junge Menschen, um in der Kindertagesstätte der Bonifatiusgemeinde zu arbeiten, beim Kinderchor und den Jugendfreizeiten zu helfen und an einem Tag der Woche an der Schule der Brasilien-AG Sprachunterricht Portugiesisch zu erteilen.
Funktioniert das?
Nicht Jede und jeder konnte sich gleich gut und schnell in das Leben und Arbeiten in Deutschland einfinden. Manchen lag die Arbeit mit den kleinen Kindern mehr, andere hatten mehr Lust auf den Kontakt mit den Älteren in der Brasilien-AG. Einzelne waren mit ihren 18 Jahren noch etwas unselbständig, weil in vielen brasilianischen Familien den Kindern vergleichsweise wenig Selbständigkeit zugemutet beziehungsweise abgefordert wird. Insgesamt war es aber sowohl für die Gemeinde als Einsatzstelle als auch für die Jugendlichen eine wertvolle Erfahrung und eine Bereicherung.
In Matto Grosso konnten Sie für Kinder und Jugendliche mittels Spenden ein Haus mit einem Grundstück kaufen. Was bieten Sie dort an?
Das Gonçalinho-Kinderprojekt bietet 60 Kindern im Alter von vier bis 18 Jahren gute Betreuung und einen sicheren Aufenthaltsort zum Spielen, Freunde treffen, lernen, Gartenarbeit, Hühnerzucht, ein Ballspielfeld, eine Küche für die Zubereitung von Mahlzeiten und zweimal pro Woche Judo-Training. Vormittags werden die Kinder betreut, die nur nachmittags zur Schule gehen können - die öffentliche Schule bietet nur vier Stunden Unterricht pro Tag an - und nachmittags die Kinder, die vormittags Schule haben. Da ihre Eltern bei den Jobs nur sehr wenig verdienen, haben die meisten zwei bis drei Arbeitsstellen oder arbeiten teilweise die ganze Woche außerhalb der Stadt auf Plantagen und kommen nur am Wochenende nach Hause. Die deutschen Freiwilligen ergänzen den Alltag im Projekt mit eigenen pädagogischen Aktivitäten wie zum Beispiel Thementagen zu guter Ernährung, vernünftigem Umgang mit dem Handy, Kinderrechten oder dem gewaltfreien Umgang miteinander und vielen anderen Themen mehr. Ein ehemaliger brasilianischer Austauschteilnehmer, der inzwischen eine lokale Sprachschule leitet, vergibt Stipendien an die Kinder, um kostenlos Englisch zu lernen, weil er sagt, dass der Austausch ihm die Augen geöffnet hat, wie wichtig Fremdsprachenkompetenz für das Leben ist. Ein anderer ehemaliger Teilnehmer ist inzwischen Vorsitzender des Trägervereins und hat für die Jugendlichen eine Friseur-Ausbildung organisiert, die wir mithilfe unserer Spenden finanzieren. Diese Ausbildung stellt für die 14- bis 18-Jährigen eine Alternative zur Attraktivität der allgegenwärtigen Straßenbanden dar.
Und wer sind Ihre Mitarbeitenden vor Ort?
Mit den Erlösen unserer Fundraising-Aktionen plus den Mitteln der Sternsinger-Gelder finanzieren wir vor Ort vier sozial- und krankenversicherte Arbeitsstellen: drei Erzieher:innen und ein Judo-Lehrer. Hinzu kommen die ein bis zwei deutschen FSJler:innen und die zwei ehrenamtlich tätigen Brasilianer, die als Vorsitzender und Schatzmeister des Trägervereins arbeiten. Ein Professor der Universität Cáceres ist als Mentor für unsere Freiwilligen ansprechbar. Außerdem arbeiten wir mit Studierenden der Uni zusammen, die als Praktikant:innen den Gonçalinho-Kindern besondere Angebote aus ihrem jeweiligen Studienfach machen. Da gibt es beispielsweise eine Anleitung zum professionellen Kompostieren oder Informationen über Zahngesundheit, sexuelle Prävention, künstlerisches Gestalten und Musikunterricht.
Bieten Sie den Schüler:innen auch längerfristige Perspektiven an?
Für die brasilianischen Kinder, die im Projekt betreut werden, ist eine wichtige Perspektive die Option, am Jugendaustausch teilnehmen zu können, wenn sie engagiert dabeibleiben, bis sie 16 Jahre alt sind. Zwei unserer ehemaligen Gonçalinho-Kinder sind inzwischen als Erzieher und Erzieherin fest angestellt. Einer, der eine diagnostizierte Entwicklungsverzögerung hat und ohne das Projekt keine Gesundheits- und Entwicklungsförderung erhalten hätte, hat nach 15 Jahren täglicher Betreuung so große Fortschritte gemacht, dass er jetzt als Helfer für ein Taschengeld bei der Kinderbetreuung mitarbeitet, am Wochenende die Hühner versorgt und den Garten gießt. Für die deutschen Schüler:innen ist sowohl das FSJ am Ende ihrer Schullaufbahn eine Perspektive als auch die Mitarbeit im Verein Pro-Gonçalinho. Über den halbjährlich erscheinenden Info-Brief können alle sich auf dem Laufenden halten und sich einbringen, wenn sie es wünschen. Viele der Austausch-Teilnehmer:innen sind im Laufe ihres Lebens noch einmal zurückgekehrt und haben eine Weile im Projekt mitgeholfen oder bei unseren Partnern von der Landlosenbewegung oder dem Indigenen-Dorf gewohnt und in der kleinbäuerlichen Landwirtschaft mitgeholfen.
Was ist für Sie persönlich das Besondere an dieser weltumspannenden Zusammenarbeit?
Dass unser Partner:innen Menschen sind, die sich nicht mit dem Zustand der Welt abfinden, sondern sich organisieren, um sich für eine bessere Zukunft einzusetzen. Die brasilianischen Jugendlichen, die am Austausch teilnehmen, kommen nicht nur aus dem Gonçalinho-Projekt, sondern auch aus der Landlosenbewegung, aus Umweltgruppen und aus dem Einsatz für Menschenrechte. Wenn wir sie besuchen und sie bei uns zu Besuch empfangen, bemühen wir uns, dass nicht mit der Haltung post-kolonialer Überlegenheit zu tun, sondern mit dem Bewusstsein, viel von ihnen und mit ihnen gemeinsam lernen zu können.
Und wie sehen Sie die Zukunft dieses Miteinanders: Gibt es Ideen für neue Projekte?
Langfristig möchten wir uns selbst als Geldgeber abschaffen und nur noch als Partner jenseits der finanziellen Abhängigkeit definieren. Es ist uns schon gelungen, mehrere Fortbildungen zum Thema ‚lokale Ressourcenakquise‘ für unsere Partner:innen zu organisieren. Langsam, aber sicher gelingt es, mehr Mittel aus Brasilien zu akquirieren. Die Zusammenarbeit mit den anderen Akteuren der Zivilgesellschaft möchten wir weiterhin vertiefen, um sowohl den Gonçalinho-Kindern als auch den Jugendlichen des Austausches die Horizonterweiterungen zu bieten, die diese Kooperationen ermöglichen. Eine ganz große Herausforderung wird sein, für die Kinder attraktive Alternativen zum allgegenwärtigen und dauerhaften Handykonsum zu er-finden. Wie unsere aktuelle FSJerin neulich sagte, nachdem sie mit den Kindern eine Stunde lang ohne Handy in einer Wiese lag, zu der sie die Gruppe geführt hatte: Keines der Kinder erinnerte sich, jemals in einer Wiese gelegen zu haben und – statt nach unten auf den Bildschirm – in den Himmel geguckt zu haben.