Im Mai erinnerte die St. Josefspflege mit einer Gedenkveranstaltung an die Deportation von jungen Sinti aus dem damaligen Mulfinger Kinderheim nach Auschwitz vor 80 Jahren. Seit mehr als 30 Jahren beschäftigt sich die heutige St. Josefspflege, zu der auch die Bischof-von-Lipp-Schule gehört, mit ihrer Historie. Den Dreh- und Angelpunkt der pädagogischen Auseinandersetzung mit den geschichtlichen Ereignissen bilden jährliche Fahrten der achten Klassen nach Auschwitz, und neuerdings auch gemeinsame Fahrten von Auszubildenden, FSJlern und interessierten Mitarbeiter:innen der St. Josefspflege.
Die erste Fahrt gab es im Jahr 1989, berichtet Barbara Köppen, die frühere langjährige Schulleiterin der Bischof-von-Lipp-Schule – Sonderpädagogisches Bildungs- und Beratungszentrum. Wichtig dabei sei immer, vom Fragehorizont der Schülerinnen und Schüler auszugehen, erklärt sie. Zusammen mit dem Historiker Dr. Frank Reuter, dem früheren Geschäftsführer der St. Josefspflege, Johann Dirnberger, und Pfarrer und Dekan Ingo Kuhbach sitzt Köppen in der Aula der Bischof-von-Lipp-Schule – Sonderpädagogisches Bildungs- und Beratungszentrum, um mit dem Publikum zu diskutieren.
Erfahrungen der heutigen Jugendlichen
Es geht vor allem um die Frage nach einer für die heutigen Jugendlichen zeitgemäßen Erinnerungskultur. Eine Mutter lobt die Vorbereitung der Fahrten. Rainer Friedrich, Geschäftsführer der St. Josefspflege, erwähnt seine Erfahrungen mit den Auszubildenden und FSJlern: Demnach sind diese hinterher dankbar, die Fahrt nach Auschwitz mitgemacht zu haben. Dirnberger hebt hervor, dass eine kirchliche Einrichtung diese Fahrten anbietet.
Reuter ist es wichtig, dass den jungen Leuten zugehört werde, und nicht einfach von oben herab gesagt werde, was sie machen sollen. Der Wissenschaftliche Geschäftsführer der Forschungsstelle Antiziganismus am Historischen Seminar der Universität Heidelberg erläutert in seinem Vortrag, der zu Beginn der Veranstaltung steht, die historischen Zusammenhänge.
Vom Heimerlass zur Deportation
Reuter hat im Laufe seiner Forschungsarbeit laut eigenen Angaben 80 Interviews mit Auschwitz-Überlebenden geführt. Er spannt den Bogen vom Heimerlass 1938 über die rassenideologische Arbeit von Eva Justin bis zur Deportation der Sinti-Kinder aus dem Mulfinger Kinderheim. Der Heimerlass des württembergischen Innenministeriums im Jahr 1938 hatte die St. Josefspflege als zentrales Heim für Kinder und Jugendliche aus Sinti-Familien bestimmt. Etwas Vergleichbares habe er für andere Regionen nicht gefunden, erläutert Reuter die überregionale Besonderheit.
Die Eltern vieler der Kinder, die dadurch nach Mulfingen kamen, seien bereits deportiert worden. Erst daher waren die Kinder ein Fall für die Fürsorge geworden.
Ideologie und Verantwortung
Eva Justin, Mitarbeiterin der von Robert Ritter geleiteten „Rassenhygienischen und bevölkerungsbiologischen Forschungsstelle“ Berlin, besuchte das Heim in Mulfingen. Sie beobachtete und untersuchte die Kinder für ihre rassenideologische Dissertation. Reuter stellt die Scheinobjektivität der Forschung und die auf "Willkür und Suggestion" beruhende Pseudowissenschaftlichkeit der nationalsozialistischen Rassenideologie deutlich heraus.
Die Rassendiagnose, verbindlich für alle Ämter, sei dann das Todesurteil für die Kinder gewesen. Sie wurden von Mulfingen nach Auschwitz deportiert. Aus der Mulfinger Einrichtung selbst waren es 37 Kinder, drei überlebten das Konzentrationslager, wie Reuter mit Bezug auf die neueste Auswertung von Akten erklärt.
Differenziert blickt Reuter auf die Verantwortung der Kirche. Er spricht die individuelle Verantwortung an. Am Ende der Veranstaltung bleibt daher für jeden einzelnen und jede einzelne die Frage, wie er oder sie selbst damals reagiert hätte, wie es auch Pfarrer Kuhbach als Frage für sich stellt.