Glauben

Der Mensch zwischen Stern und Stein

Der Sternenhimmel steht nicht für die Größe und Großartigkeit der Schöpfung, sondern symbolisiert auch Geheimnis, Zukunft und Ewigkeit - und auch die „Getragenheit", die im Mittelpunkt des Haupt- und Leitvortrags 2023 von Dekanatsreferent Dr. Wolfgang Steffel im Saal des Ulmer Bischof-Sproll-Hauses stand. Foto: drs/Jerabek

„Geworfen ins neue Jahr, getragen im neuen Jahr“ – der Leitvortrag 2023 fürs Dekanat Ehingen-Ulm schlug eine Brücke zwischen Philosophie und Glaube.

Stern und Stein - zwei Urbilder des Menschseins bilden gleichsam die Pole, zwischen denen sich der Mensch mit seiner Gefühlswelt immer wieder einordnet, zumal zu Beginn des Jahres. Stern und Stein stehen auch für eine spannende Begegnung philosophischer Motive im Grenzbereich von Glaube und Denken. Mit Bildern, Gedanken und Klängen machte die zehnte Ausgabe des jährlichen Leitvortrags fürs Dekanat die Polarität dieser Gefühle zum Thema, die das Leben eines jeden Menschen prägen und in aufgeregten Zeiten besonders bedacht sein wollen: Gefühle und Zeiten der Geworfenheit, Stimmungen und Momente der Getragenheit.

Mit „Geworfenheit“ beschreibt der Philosoph Martin Heidegger (1889-1976) die faktische Tatsache des Sich-Vorfindens, die Unausweichlichkeit des Daseins: das ungefragt in die Welt geworfen worden sein. Diese Geworfenheit sei unentrinnbar und undurchschaubar und laste bisweilen schwer wie ein Stein auf dem Einzelnen, sagte Dekanatsreferent Dr. Wolfgang Steffel in seinem Vortrag. Mit „Wirbel, bodenlosem Schweben, Absturz“ charakterisiere Heidegger dieses Bild, das freilich immer auch mit dem Motiv des Entwurfs, des Entwerfens, verbunden sei. Der Mensch, der in die Welt geworfen sei, habe immer die Gelegenheit, sein Leben „in die Hand zu nehmen, zu gestalten, zu entwerfen“, so Steffel.

Den Karren der Lasten an einen Stern anbinden

In den Augen seines Schülers Oskar Becker (1889-1964) habe Heidegger den Lastcharakter der Geworfenheit überbetont. Becker verwerfe die Geworfenheit nicht, „möchte sie aber weiten in einen anderen Bereich hinein: die Getragenheit“. Es gehe nicht darum, „die Geworfenheit beiseitezuschieben oder sie in die Getragenheit aufzulösen“. Becker habe aber eine Art Leichtigkeit ins Spiel gebracht. „Becker sagt, dass wir den Karren, den wir im Leben ziehen müssen, an einen Stern binden können“, erläuterte Steffel. Und wenn dieser Zugkraft „eine große Idee, ein größerer Zusammenhang oder eine Gnade“ innewohne, „dann werden wir diesen Karren leichter und eher ziehen können und vielleicht später einen tieferen Sinn erkennen können. Dieser Sinn wird uns vielleicht einmal aufleuchten wie ein Stern.“

Auch wenn Becker kein Christ gewesen sei: „Ist die Getragenheit nicht auch ein Wort für den Glauben?“ fragte Steffel. Und könnten die Symbole Stern und Stein dabei helfen, „mich mit meiner Gefühlswelt zu Beginn des Jahres einzuordnen?“

Der Stern als Motiv der Getragenheit

Der Stern symbolisiere „ferne Gedanken, Visionen, Ahnungen, etwas Geheimnisvolles, vielleicht eine Idee, die ich verwirklichen will, Zukunft; sicher auch Vergangenheit, denn den Stern, den wir heute auf Erden sehen, sehen wir in einer Form, wie er vor Millionen Jahren geleuchtet hat“, so der Referent, „dadurch auch Ewigkeit und eben auch jene Getragenheit“, zu der nach den Worten Oskar Beckers „lichte Offenheit und kristallene Durchsichtigkeit“ gehören.

Der Stein als Symbol der Geworfenheit

Der Stein symbolisiere Daliegen, Hingeworfen sein, einfach Da sein, Festigkeit. „Während der Stern licht ist, ist der Stein lichtundurchlässig; Symbol für feste, unerschütterliche Grundüberzeugungen, auch für eine Form von Gegenwart“ sagte Steffel. Während der Stern für die Getragenheit stehe, „symbolisiert der Stein die Welt und die Geworfenheit“.

Stern und Stein – die Kunst hat die Polarität dieser Bilder auf vielfältige Weise aufgegriffen, wie der Referent an Beispielen illustrierte. Dazu zählt eine Darstellung im Bruder-Klaus-Visionenweg im Kloster Heiligkreuztal. Eine der vom Schweizer Künstler Alois Spichtig konzipierten und von Toni Halter vollendeten Szenen in den Nischen der Außenmauer der Klosteranlage zeigt einen Felsblock, der ein Dreieck in sich birgt – ein Anklang an die Dreifaltigkeit –, und eine Wolke darüber, in der ein Stern auftaucht, um die ganze Welt zu durchscheinen.

Ein Stern, der die Welt erleuchtet

In der Michaelskapelle in der Basilika St. Vitus in Ellwangen hat der Pfarrer und Künstler Sieger Köder (1925-2015) ein Abendfenster gestaltet mit einem Abendstern, „der bekanntermaßen auch der Morgenstern ist – jener Stern, den wir am Abend als ersten sehen und der am Morgen als letzter verschwindet“ und der wunderschön besungen wird in dem Lied „Wie schön leuchtet der Morgenstern“. In dem Fenster ist ein Vogel dargestellt, der durch den Raum fliegt, und ein aufgeschlagenes Buch, und über allem leuchtet der Stern.

Steffel erinnert diese Szenerie an eine Geschichte, die über frühe irische Missionare erzählt wird: Der Hochkönig versammelte die Mönche in einer Halle bei Feuer, als diese um Missionserlaubnis ersuchten. Ein Vogel verirrte sich aus dem Dunkel hinein ins Hallenlicht, kreiste kurz umher und verschwand wieder in die Nacht hinaus. Der König sah darin die Situation des Menschen, der in sein Leben geworfen wird, getragen durch Luft und eigenen Flügelschlag die kurze Zeit seines Lebens auf Erden gestaltet und dann ins Ungewisse übertritt. „Was könnt ihr Christen zu Geworfenheit und Getragenheit dieses Vogels namens ‚Mensch‘ sagen?“, fragte der König. „Und wenn ihr Deutung dazu habt, seid ihr willkommen!“

Viele Momente der Getragenheit

Für den Referenten ist das „eine Situation, die wir vielleicht nachfühlen können: Wir werden in diese Welt hineingeworfen, fliegen in der erleuchteten Halle unseres Lebens umher und verschwinden wieder – wo? wir wissen es nicht –, aber in dieser Zeit in der Halle sind wir getragen und erleben auch viele Momente der Getragenheit“, sagte Steffel.

Auch Teilnehmer der Veranstaltung im Ulmer Bischof-Sproll-Haus oder online zugeschaltet mochten sich in einer Gesprächsrunde gern auf die Bilder einlassen. Sie erinnerten etwa an das Getragen-sein des Kindes im Schoß der Mutter und an den traumatischen Moment der Geburt, wenn das Kind aus der Geborgenheit heraus in die Welt geworfen sei. Auch etymologisch gebe es spannende Verbindungen zwischen dem Wort Geburt und dem Tragen.

Lichte Gedanken in dunklen Zeiten

Was trägt im Leben? In einem zweiten Aufschlag stellte der Leitvortrag den dunklen, diffusen Gefühlen in aufgeregten Zeiten lichte Gedanken des Glaubens gegenüber. Dazu zählen etwa Gedichte von Christian Fürchtegott Gellert (1715-1769), die Ludwig van Beethoven vertont hat. In einem der Lieder – „Die Ehre Gottes aus der Natur“ – heißt es:

Wer trägt der Himmel unzählbare Sterne?
Wer führt die Sonn aus ihrem Zelt?
Sie kömmt und leuchtet und lacht uns von ferne,
Und läuft den Weg, gleich als ein Held.

Ja, auch gute Musik vermöge zu tragen, fuhr Theologe Steffel fort, so wie auch Begegnung und Gemeinschaft trage; ebenso Riten und Rituale. „Selbst schwierige Situationen können auch – wenn sie ertragen werden – in eine gewisse Getragenheit münden.“ Psalm 22 zeuge davon, wenn es etwa heißt: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen (…)?“ (Ps 22, 2), dann aber: „Du bist es, der mich aus dem Schoß meiner Mutter zog, der mich anvertraut der Brust meiner Mutter. Von Geburt an bin ich geworfen auf dich, vom Mutterleib an bist du mein Gott.“ (Ps 22, 10f.)

„Das Vertrauen, dass auch ich getragen sein kann, so wie ich bin, gibt Mut und Kraft, alles anzunehmen“, sagte der Referent. Und ein Teilnehmer des Leitvortrags kleidete seine Gedanken in den Vers: Der Stern

Lass uns einen Stern erfahren,
Der wird Fänger sein;
Denn der Wurf des Lebens
Will getragen sein.

(Georg Heinzelmann)

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