Anlässlich des „Tags der Arbeit“ am 1. Mai gibt Matthias Schneider, Leiter der „Betriebsseelsorge“ in der Diözese Rottenburg-Stuttgart, Einblicke in die Sorgen und Nöte, die ihm und den 13 katholischen Betriebsseelsorger:innen in Württemberg in diesen Tagen begegnen.
Herr Schneider, wie erleben Sie und Ihre Kolleg:innen aktuell die Stimmung in den Betrieben, welche Rückmeldungen erhalten Sie?
Hier müssen wir differenzieren: Es gibt Betriebe, die unter den gegenwärtigen Bedingungen: Transformation, Krieg in der Ukraine, Trumps Wirtschafts- und Zollpolitik leiden und die weniger Aufträge haben. Dort ist die Anspannung natürlich groß. Die Mitarbeiter:innen haben Sorge um ihren Arbeitsplatz. Entlassungen, Kurzarbeit oder Verlagerung ins Ausland drohen. Es gibt aber auch Betriebe, da läuft es gut, da kämpfen die Mitarbeiter:innen mit zu viel Arbeit. Aus den oben genannten Gründen wird aber nicht eingestellt, oder es ist kein qualifiziertes Personal verfügbar. Das führt zu Arbeitsverdichtung und Überbelastung. Wir stellen in allen unseren Regionalstellen fest, dass Beratungs- und Gesprächstermine deutlich zunehmen.
Der 1. Mai steht für Solidarität und Arbeitnehmerrechte. Welche Bedeutung hat dieser Tag aus Ihrer Sicht noch heute?
Viele Menschen verbringen einen Großteil ihrer Lebenszeit bei der Arbeit. Die Arbeit prägt daher ihr Leben und ihr Lebensumfeld. Dadurch ist dieser Lebensraum der ‚Arbeitswelt‘ auch für unser gesellschaftliches Miteinander relevant. Der 1. Mai nimmt das Thema ‚Arbeit‘ in den Fokus. Die Akteure, also Gewerkschaften, Betriebs- und Personalräte, Mitarbeitende, auch die Betriebsseelsorge und der Kirchliche Dienst in der Arbeitswelt der evangelischen Landeskirche in Württemberg stehen für eine Arbeitswelt, in der ‚gute Arbeit‘, also Würde, Wertschätzung, Gleichberechtigung, Gerechtigkeit und solidarisches Miteinander im Mittelpunkt stehen. Werte, die heute wichtiger denn je sind und die immer wieder in Frage gestellt werden. Denken wir an die aktuellen Diskussionen zur Sonntagsarbeit, zum Mindestlohn, oder zu Streichungen von Feiertagen.
Viele Beschäftigte in der Autoindustrie und den Zulieferbetrieben bangen um ihre Zukunft. Wie gehen Menschen, die Sie begleiten, mit der Transformation der Branche – etwa durch Elektromobilität und Künstliche Intelligenz – um?
Es gibt eine große Bereitschaft, sich auf Neuerungen einzustellen. Jedoch kommen dabei auch Ängste ins Spiel. Energieintensive Betriebe leiden stark unter den gestiegenen Energiekosten und überlegen sich ins Ausland zu verlagern. Das macht natürlich etwas mit den Beschäftigten. Das Betriebsklima wird rauer, Konflikte entstehen und die Unzufriedenheit wächst. Die Mitarbeitenden in den Zulieferbetrieben sind abhängig vom Verhalten der großen Automobilhersteller. Hier ist der Druck enorm. Die Zulieferer müssen versuchen, die Anforderungen der ‚Großen‘ zu erfüllen, das heißt meistens, billiger zu werden. Dies geht natürlich oft auf Kosten der Mitarbeitenden. Auch dies wirkt sich auf die Atmosphäre in den Betrieben aus. Durch die Einführung von KI besteht bei einigen Mitarbeitenden die Sorge, dass ihre Arbeitsplätze wegfallen könnten. Die führt verständlicherweise zu Verunsicherung und zu stärkerem Konkurrenzverhalten unter den Kolleg:innen im Betrieb.
Spüren Sie eine wachsende Angst vor Jobverlust?
Ja, die spüren wir deutlich. Sie ist in einigen Betrieben leider auch Realität geworden. Denken wir an Bosch, an Automobilbetriebe, an Zulieferer, die auch Mitarbeitende entlassen. Man kann auch nicht einschätzen, wie sich der Zollstreit mit den USA, oder der Krieg in der Ukraine entwickeln. Dies sind Unsicherheiten, die uns als Menschen alle betreffen und verunsichern. Dies gilt natürlich auch für die in der Arbeitswelt Tätigen. Hinzu kommt, dass zurzeit auch Betriebe, denen es gut geht, die also Gewinne machen und die vor zwei bis drei Jahren sogar Rekordgewinne von 20 Prozent oder mehr gemacht haben jetzt über Entlassungen oder Teilschließungen nachdenken, weil ihnen ein Gewinn von drei oder vier Prozent zu wenig ist. Dies verunsichert noch mehr und lässt die Ängste wachsen.
Was können Sie für die Arbeitnehmer:innen in Zeiten von Unsicherheit und strukturellem Wandel tun?
In erster Linie sind wir da, oft vor Ort präsent und haben ein offenes Ohr für die Probleme und Sorgen der Mitarbeitenden. Dann versuchen wir zu unterstützen und zu begleiten. In Konfliktfällen bieten wir uns auch als Vermittler:innen an. Wir unterstützen Betriebs- und Personalräte in ihrer Arbeit und stärken sie auf diese Weise. An einigen Orten bieten wir Oasentage und Resilienzseminare an, um die Widerstandskräfte der betroffenen Belegschaften zu stärken oder ihnen Tipps zu geben, wie sie besser mit Druck und Stress klarkommen können. In manchen Situationen organisieren wir auch weitere Hilfen und vermitteln eine Rechtsberatung, oder psychologische Unterstützung.
Welche Perspektiven können Sie dabei anbieten?
Durch unser Tun stärken wir die zu uns kommenden Menschen in ihrer konkreten Situation. Wir versuchen mit ihnen zusammen Wege zu entdecken, damit sie ihre momentane Situation besser meistern können. Wir gehen auf Wunsch auch diese Wege mit, begleiten sie in Gesprächen mit Vorgesetzten oder Kolleg:innen oder vermitteln sie, wie bereits gesagt, an kompetente Unterstützungssysteme. Wir versuchen Netzwerke aufzubauen, damit auch erkennbar wird, dass manche Situationen nicht individuell und einzigartig sind, sondern, dass auch andere Menschen von ähnlichen Situationen betroffen sind. So haben wir verschiedene Mobbinggruppen oder Erwerbslosentreffs, in denen wir Menschen zusammenführen, damit sie ihre Kompetenzen entdecken und sich gegenseitig daran teilhaben lassen.
Was wünschen Sie sich von Politik und Wirtschaft, um die Würde der Arbeit in dieser Zeit zu schützen?
Gute Arbeit kostet natürlich Geld. Von daher ist ein Mindestlohn eine sinnvolle Einrichtung, der ein gutes Auskommen gewährleisten muss. Dann halte ich es für unabdingbar, dass öffentliche Gelder nur an tarifgebundene Unternehmen fließen sollten. Die Tarifbindung garantiert gute Arbeitsbedingungen und verhindert Ausbeutung und Ungerechtigkeit, außerdem trägt sie letzten Endes auch zur Demokratisierung bei. Wir bräuchten für manche Branchen bessere Kontrollmechanismen. In der Paket- und Logistikbranche zum Beispiel, gibt es viele Mitarbeitenden, die keinen Mindestlohn bekommen, die durch ihren Aufenthaltsstatus oft auch keine Rechte einklagen können und dadurch hilflos ihrem Arbeitgeber ausgeliefert sind. Hier wären mehr Kontrollen sicher hilfreich. Und nicht zu vergessen wäre, endlich das Lieferkettengesetz, dass leider schon wieder in der Diskussion ist, konsequent durchzusetzen. Wir müssen uns als Gesellschaft einfach darüber bewusst sein, dass ohne ein gutes Lieferkettengesetz, Kinderarbeit und Ausbeutung in anderen Ländern weitergehen wird, mit dem Hintergrund, dass für uns hier in Deutschland die Produkte billiger werden.
Gibt es bestimmte Berufsgruppen oder Branchen, die besonders unter Druck stehen und Ihrer Meinung nach mehr Aufmerksamkeit oder Unterstützung brauchen?
Einige habe ich schon aufgezählt, nennen möchte ich noch die Erntearbeiter:innen, und auch die 24-Stunden Pflegekräfte, die sogenannten „Live-Ins“. Hinzukommen, wie schon beschrieben die Zulieferbetriebe und die energieintensiven Branchen. Sie brauchen Unterstützung, damit sie nicht zu sehr unter Druck kommen, oder ins Ausland abwandern und dadurch bei uns Arbeitsplätze verloren gehen. In naher Zukunft wird es darauf ankommen, alle diejenigen, die wenig oder gar nicht qualifiziert sind, mitzunehmen. Da braucht es ganz neue Wege der Fort- und Weiterbildung, gerade im Rahmen der Transformationsprozesse und in Hinblick auf den Fachkräftemangel. Aufmerksamkeit brauchen grundsätzlich alle Menschen, die in der Arbeitswelt, aus welchem Grund auch immer, nicht mehr mit den aktuellen Gegebenheiten klarkommen. Ganz egal ob es sich um psychische oder körperliche Probleme handelt. Sie dürfen nicht abgeschrieben oder gar aussortiert werden.
Wenn Sie den Beschäftigten in Württemberg zum 1. Mai eine Botschaft mit auf den Weg geben könnten – welche wäre das?
Für uns Christen und daher für uns Betriebsseelsorger:innen steht der Mensch immer im Mittelpunkt des Geschehens. Nicht der Profit oder die Gewinnsteigerung sind für uns von Bedeutung, sondern die Würde und Einzigartigkeit der Person. Dies gilt auch in der Arbeitswelt. Der erste Mai erinnert an die Errungenschaften der Arbeiterbewegungen in den vergangenen Jahrzehnten. Es ging immer um den Einsatz für bessere Arbeitsbedingungen für die Menschen. In der heutigen Zeit, in der Renditen, Profite und Gewinnmargen im Vordergrund stehen, ist es wichtiger denn je, daran immer wieder zu erinnern, worum es bei der Arbeit, auch im christlichen Sinne immer geht: Um eine sinnstiftende, schöpferische Tätigkeit, die zu Ansehen und Würde des Menschen beiträgt und den Lebensunterhalt gewährleistet. Dafür haben sich die Verantwortlichen vor unserer Zeit mit aller Kraft eingesetzt. Also lade ich, auch im Namen meiner Kolleginnen und Kollegen herzlich dazu ein, diesen Tag zu feiern, als einen traditionellen Tag der Menschwürde und der gemeinsamen Solidarität in unserer Gesellschaft. Das diesjährige Motto zum 1. Mai lautet: „Mach Dich stark mit uns“. Dies geht nur in einem Miteinander, gewerkschaftlich organisiert und solidarisch.