Geflüchtete

Hilfe für verwundete Seelen

Ein traumatisiertes Kind malt seine Angst: In einer Therapie können sich die Ungeheuer des Erlebten bildhaft offenbaren und somit greif- und bewältigbar werden. Foto: Caritas Ulm-Alb-Donau

Wer auf der Flucht durch die Hölle ging, braucht Hilfe. Ein einzigartiges überregionales Kooperationsprojekt unterstützt traumatisierte Flüchtlinge.

Bis Ende März sollen die geflüchteten jungen Menschen - zumeist Waisen, schwer erkrankte Kinder und Jugendliche - deren Aufnahme die Bundesregierung nach dem Brand im griechischen Flüchtlingslager Moria im September 2020 zugesagt hatte, in Deutschland eintreffen. Etwa 85 kommen nach Baden-Württemberg. Mehrere Städte, darunter Villingen-Schwenningen, haben seit Monaten ihre Bereitschaft erklärt, Kinder und Jugendliche aus Moria aufzunehmen. Viele von ihnen haben Schlimmes erlebt, teils traumatisierende Erfahrungen gemacht – in ihrem Heimatland, auf der Flucht, im Flüchtlingslager. Oft erkranken Menschen an einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTSD), wenn sie Krieg, Folter oder Vergewaltigung erlebt haben.

Welche Folgen solche Traumatisierungen haben und wie sich Betroffenen helfen lässt, erläutern Manfred Makowitzki und Andreas Mattenschlager im Interview. Makowitzki leitet das Behandlungszentrum für Folteropfer Ulm (BFU), das erwachsene geflüchtete und traumatisierte Menschen unterstützt. Mattenschlager ist Leiter der Psychologischen Familien- und Lebensberatung der Caritas Ulm-Alb-Donau, die sich um geflüchtete Kinder und Jugendliche kümmert. Zwischen beiden Einrichtungen und dem Psychosozialen Zentrum für traumatisierte Flüchtlinge, Refugio Villingen-Schwenningen e.V., welches geflüchtete Kinder, Jugendliche und Erwachsene behandelt, gibt es seit 2015 ein überregionales Kooperationsprojekt, das vom katholischen Dekanat Ehingen-Ulm koordiniert wird und bundesweit einzigartig ist.

Herr Makowitzki, Herr Mattenschlager, der Begriff Trauma wird in der Alltagssprache fast schon inflationär gebraucht. Was aber bedeutet es denn tatsächlich, wenn geflüchtete Menschen an einer Posttraumatischen Belastungsstörung erkranken?

Makowitzki: Etwa 70 bis 80 Prozent unserer Patienten leiden unter Alpträumen, fast jede Nacht. Tagsüber leiden viele unter sogenannten Flashbacks, also Erinnerungsattacken, die sie glauben machen, sie wären in der Verfolgungs- oder Misshandlungssituation, und können sich dagegen nicht wehren. Viele sind in einer Art Übererregung, die sie nicht in den Griff kriegen. Oder sie vermeiden es, sich an das Geschehene zu erinnern, sie spalten ab. Es gibt also ein komplexes Störungsbild, das insgesamt sehr belastend wirkt auf den Alltag: Betroffene können nachts nicht schlafen und sich dann tagsüber bei der Arbeit nicht konzentrieren.

Wie ist das bei Kindern?

Mattenschlager: Das sind die gleichen Symptome, vielleicht aber in unterschiedlicher Ausprägung. Wir haben viele Kinder, die sich zurückziehen, in der Schulklasse oft sehr verschlossen sind, sich zum Teil sogar unter Tischen verstecken. Das deutlichste Symptom sind aber auch bei Kindern die Schlafstörungen, zusammen mit den Flashbacks. Wir sehen Konzentrationsprobleme, die es sehr schwer machen, in der Schule mitzukommen. Es ist also auch hier ein komplexes und sehr mit Leiden durchzogenes Störungsbild.

Bisweilen herrscht die Vorstellung, dass dieses Leiden in Aggression umschlagen kann. Welche Erfahrungen machen Sie damit?

Mattenschlager: Studien zeigen, dass die Symptome, die man bei traumatisierten geflüchteten Kindern sieht, zum allergrößten Teil Störungen sind, die sich nach innen richten, wie Ängste oder Depressionen. Dagegen sind Störungen, die sich nach außen richten, also Verhaltensstörungen oder Aggressionen, bei geflüchteten Kindern und Jugendlichen im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung deutlich unterrepräsentiert. Es ist also gegenläufig zu dem, was man häufig als stereotype Bilder im Blick hat.

Wie können Sie den betroffenen Menschen helfen?

Mattenschlager: Wenn es wirklich klar um eine Traumafolgestörung geht, bieten wir psychotherapeutische Unterstützung an, mit den üblichen Verfahren. Das ist sehr erfolgreich, denn man kann viel verändern im Leben der Menschen, wenn sie bereit dazu sind. Häufig stellt sich uns aber ein herausforderndes Bild mit sehr vielen unterschiedlichen Themen, die die Kinder hier in der Gesellschaft bewerkstelligen müssen: als Migrantenkinder, als geflüchtete Kinder, als Kinder, deren Eltern psychische Krankheiten durchleben, oder als Kinder, die zum Teil ohne ihre Eltern nach Deutschland gekommen sind… Dann ist ein viel breiterer Ansatz nötig: Dann geht es erst einmal darum, die Kinder im Leben zu stabilisieren im engeren Sinn, also eher um psychosoziale Beratung, wie wir sie grundsätzlich in der Beratungsstelle anbieten.

Makowitzki: Für den Erwachsenenbereich machen wir das analog, nur mit dem Unterschied, dass wir keine Beratungsstelle haben, sondern über ein gemischtes Team aus Psychotherapeuten und Sozialarbeitern verfügen. Wir bieten dolmetschergestützt psychosoziale Beratung und Psychotherapie kombiniert und bezogen auf den jeweiligen Einzelfall an. Zum einen arbeiten wir zusammen mit Anwälten an der lebensweltlichen Wirklichkeit dieser Menschen, denn etwa 80 Prozent der Klienten sind ohne gesicherten Aufenthalt, und zum anderen arbeiten wir an dem manifesten Trauma, das sehr vielschichtig sein kann.

Wie groß ist überhaupt der Anteil der Menschen, die Ihre Unterstützung brauchen?

Makowitzki: Wir gehen davon aus, dass etwa bei einem Drittel der geflüchteten Menschen eine Traumafolgestörung vorliegt. Der Bedarf ist also groß und potenziell sehr viel höher als die Aufnahmekapazität unseres Zentrums und aller Zentren in Baden-Württemberg. Derzeit gibt es neben dem BFU und unserem Kooperationspartner Refugio Villingen-Schwenningen sechs Psychosoziale Zentren für traumatisierte Geflüchtete im Land mit einer diagnostischen Kapazität von etwa 2000 Patienten. Etwa 1000 können wir ein Behandlungsangebot im Sinne der psychotherapeutischen und psychosozialen Versorgung machen.

Wie gelangen die traumatisierten Menschen zu Ihnen?

Mattenschlager: Die Zugangswege sind relativ unterschiedlich. Bei Kindern waren es am Anfang vor allem Ehrenamtliche, die uns traumatisierte Kinder vermittelt haben; dann sind über die Kindertagesstätten Kinder zu uns vermittelt worden. Derzeit kommen viele Kinder über die Jugendämter oder über die Schulen zu uns. Über die Schulen können wir oft auch die Eltern gewinnen. Wenn die Schule ein Signal gibt, „Da läuft irgendwas schief“, dann sind die Eltern oft schneller bereit, Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Makowitzki: In unserem Bereich ist vor allem das medizinische Versorgungssystem der Hauptanmelder: die Hausärzte, die Psychiater, die Kliniken; dann die Sozialarbeiter in den Flüchtlingsunterkünften, außerdem Anwälte, aber auch ehemalige Patienten.

Welche Stellung nehmen Ihre Einrichtungen eigentlich im gesundheitlichen Versorgungssystem ein?

Makowitzki: Ein dolmetschergestütztes psychosoziales und psychotherapeutisches Angebot ist im normalen ambulanten und stationären Versorgungssystem für traumatisierte Geflüchtete nicht vorgesehen. Das gilt demzufolge auch für die Finanzierung. Da herrscht eine Kluft zwischen dem menschenrechtlichen Anspruch, den man ja als Bundesregierung durch die Übernahme von Vertragswerken wie der Anti-Folter-Konvention hat, und der Tatsache, dass man in der Struktur nichts für die Umsetzung gemacht hat. Die Kirchen sind hier bereitwillig in die Bresche gesprungen. Nicht zu vergessen auch viele Spenderinnen und Spender, die die Arbeit seit Jahrzehnten wesentlich finanziell unterstützen.

Mattenschlager: Die Diözese Rottenburg-Stuttgart hat da eine tolle Vorreiterrolle eingenommen, dass das Projekt überhaupt entstanden ist. Ich kann für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen sagen: Das ist die einzige Finanzierung, die wir haben, die über ein Jahr hinaus eine Zusage hat. Das gibt uns als Träger viel Sicherheit, qualifizierten Mitarbeitern auch eine berufliche Perspektive zu bieten in einer sehr anstrengenden Arbeit. Da bin ich sehr dankbar dafür. Das Dekanat Ehingen-Ulm ist Antragsteller in dem Projekt und somit auch Träger oder Koordinator.

Worin besteht die Kooperation Ihrer Einrichtungen genau?

Mattenschlager: In Ulm führte die Kooperation zu einer Erweiterung des Angebots: Neben der seit über 20 Jahren etablierten Versorgung von erwachsenen geflüchteten und traumatisierten Menschen durch das BFU ist zusätzlich ein therapeutisches Angebot für Kinder und Jugendlichen bei der Psychologischen Familien- und Lebensberatung entstanden. Das Dekanat Ehingen-Ulm hat die Brücke geschlagen zwischen unseren Einrichtungen.

Makowitzki: In dieser Form ist das eine einzigartige Kooperation. Wir haben unsere Kompetenzen und Strukturen zusammengelegt und ein neues Versorgungsgerüst geschaffen, das sowohl regional als auch bundesweit so nicht existiert. Refugio Villingen-Schwenningen, unser überregionaler Projekt-Partner, bietet für Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit Fluchthintergrund ein psychosoziales und psychotherapeutisches Angebot in fünf Landkreisen an. Refugio Villingen-Schwenningen war eines der ersten Zentren, welches bereits vor einem Jahr die schnelle und unkomplizierte Aufnahme von Kindern und Jugendlichen aus dem Flüchtlingslager Moria in sein Behandlungsprogramm angeboten hat. Im Übrigen liegen die Einzugsgebiete vom BFU und Refugio Villingen-Schwenningen in direkter Nachbarschaft. Durch die Kooperation stellen wir eine flächenmäßig breite Versorgung im ländlich geprägten Süden von Oberschwaben über das Donautal bis zum Schwarzwald sicher und ermöglichen Schulungen für Haupt- und Ehrenamtliche in der Flüchtlingshilfe. Auch diese Komponente macht das Projekt einzigartig.

Mattenschlager: Inhaltliche Zusammenarbeit und großzügige Unterstützung durch das BFU gibt es insofern, als wir den Dolmetscher-Pool zur Verfügung gestellt bekommen haben, denn ohne Dolmetscher könnten wir hier quasi gar nichts tun für die geflüchteten Menschen. Wir haben aber auch in der Fallarbeit Kooperationen, wenn mit Einverständnis der Familien ein Austausch der Therapeuten stattfindet. Zusammenarbeit gibt es außerdem bei Schulungen und in der Öffentlichkeitsarbeit und weiterhin mit dem Dekanat.

Sie sprachen von fehlenden Angeboten im regulären Versorgungssystem. Fehlt es am Bewusstsein in der Gesellschaft für die Notwendigkeit Ihrer Arbeit – vielleicht auch, weil es für eine ganze Generation von Menschen im und nach dem Zweiten Weltkrieg gar keine Möglichkeit gab, eine Traumafolgestörung zu behandeln?

Makowitzki: Das ist ein wichtiges Thema: Wir sind ja eine Täternation und gleichzeitig eine Opfernation, wenn ich an die Vertriebenen und Geflüchteten und die Bombenopfer denke, und all die, die Waise geworden sind. Es gibt sehr wohl ein Bewusstsein dafür, dass unsere Arbeit sehr wichtig ist.

Mattenschlager: Das Spannende ist, dass es dieses Bewusstsein immer gab, auch nach dem Zweiten Weltkrieg. Man wusste sehr wohl, was Traumafolgestörungen sind – schon aus dem Ersten Weltkrieg. Man hat aber auch gewusst, dass es nicht die Versorgungskapazitäten gab, um die vielen Menschen zu versorgen. Deshalb war die Aussage „Man muss stark sein, dann packt man das schon“ die offizielle sozial- und gesundheitspolitische Antwort damals, die bis heute noch in vielen Köpfen drin ist. Ich glaube, wir können als Gesellschaft stolz darauf sein, dass es mittlerweile Versorgungsstrukturen gibt, um traumatisierten Menschen helfen zu können. Wir haben aber im Bereich geflüchteter Menschen eine nicht kleine Gruppe, die in vielen Bereichen ausgeschlossen ist. Wir versuchen, eine Lücke zu füllen, die es in unserem Gesundheitssystem noch gibt.

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