Ehrenamt

Hoffnungsträger – keine Lückenbüßer

Modellprojekt zum Ehrenamt wird zum Standard

Weihbischof Matthäus Karrer und Referentin Gabriele Denner berichten im Interview über das Modellprojekt rund ums Thema Ehrenamt in der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Bild: Ines Szuck / Diözese Rottenburg-Stuttgart

Künftig gibt es in Württemberg ein breites Netzwerk an Engagementförder:innen – initiiert von der Diözese Rottenburg-Stuttgart.

Damit wird aus dem 2018 gestarteten Modellprojekt „Ehrenamtskoordination und Engagementförderung“ ein Standard, der nicht nur die Freiwilligen in den Kirchengemeinden, sondern in der ganzen Gesellschaft stärken soll. Die Federführung des vom Diözesanrat mitinitiierten Projekts lag bei der Hauptabteilung Pastorale Konzeption. Deren Leiter, Weihbischof Matthäus Karrer, und die ehemalige Projektverantwortliche Gabriele Denner, sprechen im Interview darüber, warum Ehrenamtliche keine Lückenbüßer sind, sondern mit ihren Talenten Kirche und Gesellschaft voranbringen können, und was ein modernes Ehrenamt auszeichnet.

Frau Denner, laut Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sind rund 40 Prozent der Deutschen ehrenamtlich aktiv. Eigentlich ein Zeichen, dass das freiwillige Engagement eine zentrale Säule der Gesellschaft ist. Gleichzeitig hört man vor Ort in Kirchengemeinden, Gruppen oder Verbänden, dass sich niemand mehr finden lässt oder der Nachwuchs fehlt. Wie steht es wirklich um das freiwillige Engagement in den Kirchengemeinden in Württemberg? Was sind die tiefgreifenden Veränderungen im Ehrenamt, die vor fünf Jahren am Beginn ihres Modellprojekts standen?

Gabriele Denner: Wenn ich in eine Kirchengemeinde komme, stelle ich zu Beginn immer die Frage: Wer engagiert sich in ihrer Gemeinde? Denn die Erfahrung vor Ort ist völlig anders als in der Gesellschaft. In unseren Kirchengemeinden herrscht vor allem ein sehr traditionelles, nach innen gerichtetes Bild von Ehrenamt vor: Die Ehrenamtlichen sind der Institution Kirche verpflichtet, engagieren sich langfristig, machen es der Kirchengemeinde oder einer Sache zuliebe. Diese Form des Ehrenamts trägt nicht mehr und führt zu einer prekären Lage: Die Engagierten sind überlastet, meist älter und es fehlt an Nachwuchs.

Das – wie wir es nennen – Engagement 4.0 zeichnet sich dagegen durch eine starke Selbstbestimmung aus, es ist zeitlich befristet und sehr individuell. Es entspricht dem Wunsch der Ehrenamtlichen, etwas Sinnvolles zu tun. Mit dem Ehrenamt muss es dem Menschen gut gehen. Die Ehrenamtlichen sind nicht zuerst für den Selbsterhalt der Kirchengemeinde da. Engagemententwicklung ist Kirchenentwicklung – das stand für mich von Beginn an über dem Projekt. Wenn wir vom Menschen her denken und nicht ausschließlich von der Institution Kirche aus, ist der Blick ein völlig anderer. Natürlich haben wir als Kirche am Ort einen Auftrag und wir benötigen Menschen, um diesen zu erfüllen. Kirche ist nicht zum Selbstzweck da. Wir müssen stattdessen stärker fragen: Was beschäftigt die Menschen? Welche Themen müssen wir angehen und welche Charismen und Talente hat der- oder diejenige, die sich ehrenamtlich engagieren will.

Damit entkräften Sie auch die mögliche Unterstellung, das Modellprojekt zur Engagementförderung diene nur dazu, Personallöcher zu stopfen?

Weihbischof Matthäus Karrer: Ehrenamtliche sind für uns Hoffnungsträger und keine Lückenbüßer. Bei der entscheidenden Frage geht es um die Haltung: Nicht zuallererst der Erhalt der Organisation steht für uns im Vordergrund, sondern es sind die Inhalte, für die wir als Kirche stehen und mit denen wir die Menschen begeistern wollen. Zumal wir mit dem Projekt das ehrenamtliche Engagement insgesamt fördern möchten – in Kirche und darüber hinaus in der ganzen Gesellschaft wie beispielsweise in der Feuerwehr oder im kommunalen Gemeinderat.

Gabriele Denner: Damit sich die Ehrenamtlichen nicht als Lückenbüßer fühlen, müssen wir früher ansetzen. Voraussichtlich werden wir in Zukunft weniger Hauptamtliche haben. Die Weiterentwicklung des hauptamtlichen Profils ist deshalb auch eine Voraussetzung, um das ehrenamtliche Engagement zu stärken. Unsere Aufgabe muss es sein, die Engagierten für ihr Christsein im Alltag zu stärken.

Heißt konkret?

Gabriele Denner: Das heißt, dass ehrenamtlich Engagierte einen Wortgottesdienst halten können, wenn das ihrem Charisma entspricht, und die Hauptamtlichen sie darin unterstützen.

Weihbischof Matthäus Karrer: Heißt: Die ehrenamtlich Engagierten sind nicht Angestellte der Gemeinde oder Helfer:innen der Hauptamtlichen. Für diese Denkumkehr brauchen wir Zeit, aber es gilt, darin zu investieren und in zehn Jahren die Früchte zu ernten.

Im Rahmen des Modellprojekts sind verstreut über ganz Württemberg in 15 Seelsorgeeinheiten Stellen für Ehrenamtskoordinator:innen entstanden. Ihre Aufgabe war es, genau diesen Blickwechsel anzuregen und aktiv umzusetzen. Welche Erfahrungen haben die Kolleg:innen vor Ort gemacht?

Gabriele Denner: Sie haben sich erst einmal schwergetan. Die Not vor Ort ist teilweise ja sehr groß. Es gibt viele Aufgaben, die in einer Kirchengemeinde geleistet werden müssen. Als die Koordinator:innen den Veränderungsprozess angestoßen haben, sind sie häufig auf Blockaden gestoßen.

Ich kann mich beispielsweise daran erinnern, dass mich ein Pfarrer angerufen hat, nachdem in seiner Gemeinde eine Ehrenamtliche, die 30 Jahre aktiv war, aufgehört hat. Er wollte für deren Aufgaben eine hauptamtliche Stelle schaffen. Dem musste ich klar sagen: Bezahlung macht das Ehrenamt kaputt. Das hieß aber im Umkehrschluss, dass es beispielsweise keine Sternsinger in der Gemeinde gab. Die Mitglieder merkten, was ihnen ohne das ehrenamtliche Engagement fehlt. Zwei Jahre später hat mich der Pfarrer wieder angerufen und berichtet, dass er wieder Freiwillige hat, die aus eigener Initiative die Sternsinger-Aktion begleiten. Wenn auch nicht mit der Perspektive, dieses Ehrenamt 30 Jahre auszufüllen.

Die Ehrenamtskoorinator:innen des Modellprojekts haben mit dem Blickwechsel das bisherige System durcheinander gebracht. Genau so kann Neues entstehen. Und sie haben mit anderen – beispielsweise der Kommune – kooperiert. Das kostet Kraft und Zeit, aber sie waren unsere Pioniere und so entstehen nun dauerhaft weitere Stellen, die dann den Titel Referent:innen für Engagemententwicklung tragen.

Herr Weihbischof Karrer, nicht nur der Blickwechsel, sondern auch der Blick über die Kirchengemeinde hinaus ist ein wichtiger Bestandteil des Modellprojekts?

Weihbischof Matthäus Karrer: Ja, die Referent:innen sollen in Netzwerken arbeiten und aktiver Teil des jeweiligen Sozialraums sein, sich dort mit ihren Ressourcen einbringen. Das Modellprojekt war das erste Projekt in unserer Diözese, dass so klar dieses Ziel verfolgte. Wir haben dabei auf multiprofessionelle Teams gesetzt, was heißt: In den Pastoralteams sollten nicht nur Menschen mit einer theologischen oder religionspädagogischen Ausbildung arbeiten, sondern beispielsweise auch mit einem sozialpädagogischen Hintergrund. Unterm Strich kommt es uns auf die konkreten Kompetenzen des jeweiligen Mitarbeitenden an und nicht zuerst auf den jeweiligen Abschluss.

Sie haben das Projekt wissenschaftlich begleiten lassen, Frau Denner. Wie ist das erfolgt und was für ein Ergebnis hatte die Evaluierung?

Gabriele Denner: Das Institut für angewandte Sozialwissenschaften der Dualen Hochschule in Stuttgart hat unser Projekt von Beginn an begleitet und evaluiert. Jedes Jahr hat das Institut Interviews mit den Beteiligten geführt und aus den Erkenntnissen haben wir das Projekt laufend weiterentwickelt. Unterm Stich lässt sich heute sagen: Das Rad läuft, vielleicht noch nicht ganz rund, aber wir sind davon überzeugt, dass wir in die richtige Richtung gehen. Zu den größten Herausforderungen zählt, die Kolleg:innen nicht zu „verheizen“. So mussten wir eine Projektstelle vorzeitig beenden, weil sie in der Seelsorgeeinheit Aufgaben übernommen hat, die nicht zu ihrem Grundauftrag gehört haben, das ehrenamtliche Engagement zu fördern und weiterzuentwickeln. Diese Abgrenzung zu meistern, ist nach wie vor eine Herausforderung für die Ehrenamtskoordinator:innen.

Lassen Sie uns konkret darauf schauen: Was braucht es heute, um Menschen vor Ort für ein freiwilliges Engagement in der Kirchengemeinde zu motivieren? Also was zeichnet eine zukunftsfähige Ehrenamtskultur aus?

Gabriele Denner: Zuallererst braucht es den Haltungswechsel: Es geht um den Menschen und nicht um den Zweck. Wer sich freiwillig engagieren will, hat ein Charisma, ein Talent, und wir unterstützen ihn oder sie dabei, sich genau damit einzubringen. Wir rüsten die Menschen spirituell; sie sollen spüren, dass es auch beim Ehrenamt zutiefst um sie selbst und um ihr Leben geht. Diese Haltung muss rüber kommen. Dabei dürfen die Interessierten nicht das Gefühl haben, wenn sie das Ehrenamt beginnen, sind sie für die nächsten 40 Jahre „verhaftet“. Vielmehr können es auch mal nur vier Wochen sein, die sich jemand einbringt.

Weihbischof Matthäus Karrer: Was Frau Denner beschreibt, ist die zutiefst urchristliche Haltung, um die es bei der Motivation neuer Ehrenamtlicher geht: Wir öffnen Räume für Menschen, die sich aus ihrem christlichen Glauben heraus engagieren möchten. Wir sind als Kirche zu viel Verein geworden und zu wenig einladende Glaubensbewegung. Das müssen wir wieder ändern. Früher haben sich die Ehrenamtlichen für die Gemeinde engagiert; das wird aber zunehmend schwierig. Deshalb ist es nun wichtig, dass sich die Menschen engagieren, weil ihnen unsere christliche Botschaft wichtig ist. Schließlich würde auch niemand im Musikverein mitspielen, wenn ihm die Musik nicht wichtig ist.

Die fünf Jahres des Modellprojekts zur Ehrenamtskoordination und -förderung sind mit dem vergangenen Jahr ausgelaufen. Es ist nun aber nicht alles vorbei, sondern aus dem Modell wird ein Standard. Wie werden die neuen Stellen konkret umgesetzt?

Weihbischof Matthäus Karrer: Es ist erfreulich, dass die Hauptabteilung Pastorales Personal für die Weiterentwicklung des ehrenamtlichen Engagements personelle Ressourcen zur Verfügung stellt. Nach und nach soll in der ganzen Diözese ein breites Netzwerk von Engagementförder:innen aufgebaut werden.

Parallel dazu arbeiten wir in einer Arbeitsgruppe der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) mit, die sich mit der Engagementförderung beschäftigt. Dort haben wir unser Modellprojekt natürlich auch bekannt gemacht und unsere Erfahrungen sollen bundesweit in Impulse münden – mit der Perspektive, hier ein neues Berufsbild für die katholische Kirche in ganz Deutschland zu entwickeln.

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