Frau Schieszl-Rathgeb, eine bundesweite Umfrage der Organisation Plan International zeigt, wie sehr traditionelle Vorstellungen von Männlichkeit in der Gruppe der 18- bis 35-Jährigen verankert sind. Handgreiflichkeiten gegen Frauen fand gar ein Drittel der Befragten in Ordnung. Überraschen Sie die Ergebnisse der Befragung?
Ehrlich gesagt, ich bin absolut enttäuscht über Ergebnisse der Studie von Plan International. Dass ein Großteil junger Menschen in unserer Gesellschaft nach vielen Jahrzehnten Emanzipationsbewegung, gestiegenem allgemeinen Bildungsniveau, und auch angesichts dessen, dass 'Diversity' in unserer Gesellschaft angekommen ist, weiterhin an überkommenen Rollenklischees festhält, hätte ich nicht erwartet. Schockiert bin ich allerdings besonders darüber, dass für einen nicht unerheblichen Teil der Befragten Gewalt in Beziehungen moralisch legitim zu sein scheint.
Wie erklären Sie sich die Resultate, die dem Zeitgeist doch zu widersprechen scheinen?
Unsere Zeit birgt große Herausforderungen, die insbesondere junge Menschen als beunruhigend erfahren. Der Krieg in Europa, die damit verbundene politische Instabilität und mangelnde Zukunftsperspektiven wirken bedrohlich. Auch die – allerdings längst überfällige – Diskussion über geschlechtliche Identität scheint Ängste auszulösen, die die Generation der Millennials in scheinbar traditionelle Rollenmuster drängt. In all diesen Faktoren steckt sicherlich eine Sehnsucht nach Sicherheit und Stabilität.
Was ist aus Ihrer Sicht besonders kritisch zu bewerten?
Zunächst einmal sollte bedacht werden, dass sich die Welt stets im Wandel befindet. Wandel bedeutet Fortschritt. Die vergangenen Jahrzehnte haben im Bereich Frauenrechte, Gleichstellung, Selbstbestimmung und Anerkennung von Diversität und Vielfalt viele Verbesserungen gebracht. Rechtlich sind Frauen und Minderheiten inzwischen besser geschützt. Dennoch ist die Rate der queerfeindlichen Übergriffe hoch. Sexualisierte Gewalt an Frauen – gerade im häuslichen Kontext ist leider auch in Deutschland immer noch an der Tagesordnung. Jeden dritten Tag stirbt eine Frau durch Femizid. Das heißt sie wird durch ihren Partner oder Expartner getötet. Auf diesem Hintergrund sind die Aussagen von über einem Drittel der Befragten, die Gewalt gegen Frauen als akzeptabel betrachten, wirklich erschreckend.
Gibt es noch etwas anderes, das Ihnen auffällt?
Meine Anfrage an die Macher der Studie – die diese als repräsentativ ausweisen – wäre zunächst einmal, welche Milieus befragt wurden. Des Weiteren finde ich beachtlich, dass fast zwei Drittel der Befragten angeben, sich innerlich traurig, einsam und isoliert zu fühlen. Hier sehe ich uns als Kirche als gesellschaftliche Akteurin in der Verantwortung, mit einer glaubwürdigen Botschaft präsent zu sein.
Welche Bedeutung kommt der Ortskirche in Württemberg dabei zu, traditionelle Geschlechterklischees zu hinterfragen?
Die Kirche wird oft nur in ihrer konservativen, also bewahrenden Rolle wahrgenommen. Dies ist zunächst nichts Schlechtes. Gleichzeitig hat auch die Kirche einen Wandel vollzogen. Alleine, dass Bischof Fürst zahlreiche Führungspositionen zunehmend mit Frauen besetzt, ist ein Schritt mit Signalwirkung. Ich kenne viele selbstbewusste Frauen, die in kirchlichen Führungspositionen tätig sind oder bereit sind, im Haupt- oder Ehrenamt Verantwortung zu übernehmen. In meiner Hauptabteilung sind 50 Prozent der Fachreferent:innen weiblich.
Welche Veränderungen braucht es aus Ihrer Sicht auf gesamtgesellschaftlicher Ebene, um hier voranzukommen?
Wichtig ist, dass sämtliche gesellschaftliche Akteure miteinander in Dialog sind und bleiben. Partnerschaft ist aber zunächst etwas sehr individuelles. Wir entwickeln uns in einer Partnerschaft weiter, insbesondere auch, wenn Kinder hinzukommen. Dabei hilft es, wenn die Ehe-Partner:innen ihre eigenen und gemeinsamen Wünsche und Sehnsüchte reflektieren und miteinander besprechen. Der Staat steckt den gesetzlichen Rahmen. Er ist auch dafür verantwortlich, dass Diskriminierung und Gewalt geahndet werden. Dies muss konsequent geschehen. Dazu gehört auch, dass die Hürden für Frauen, Gewalt gegen sie anzuzeigen, nicht zu hoch gesteckt werden.
Gibt es Angebote der Diözese Rottenburg-Stuttgart, die aus Ihrer Sicht besonders relevant sind, wenn es um das Thema Gleichberechtigung geht?
Gewalt ist immer ein Resultat aus Schwäche und Angst. Nach dem Ersten Testament hat Gott die Menschen zwar als Mann und Frau, zugleich aber auch in gleicher Weise auch als sein Ebenbild geschaffen und ihnen die Freiheit gegeben, ihre Talente und Charismen individuell zu entfalten – unabhängig von ihrem Geschlecht. Gott, der selbst unverfügbar ist, schenkte allen Menschen die gleiche Würde. Aus dem Bild vom liebenden Schöpfergott leite ich einen besonderen Auftrag für unser christliches Handeln ab. Gerade in unserer Bildungsarbeit, in unseren Angeboten der Erwachsenenbildung, aber auch in der Jugendarbeit machen wir zahlreiche Angebote, um Menschen stark zu machen und gegen ihre Ängste und Schwächen anzugehen. Auch die Beratungsangebote der örtlichen Caritas können erste Anlaufstellen für Menschen mit Gewalterfahrungen sein. Initiativen, wie der Verein IN VIA, setzen sich mit konkreten Hilfsangeboten und Unterbringungsmöglichkeiten für Mädchen und Frauen in Notlagen ein.