Kindertagesstätten

Lernen, wie Demokratie funktioniert

Wie können pädagogische Fachkräfte Kindern demokratische Bildungsprozesse eröffnen? Das Bild zeigt eine Kinderkonferenz zur Tagesbesprechung im Kindergarten. Foto: Kita St. Elisabeth Ulm

Wo fängt Demokratie an? Wie pädagogische Fachkräfte Demokratie erfahrbar machen, darüber berichtet Kita-Leiterin Christine Ringelstetter.

„Politische Bildung beginnt bereits im Kindesalter.“ So steht es im 16. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung aus dem Jahr 2020. Bundesinnenministerin Nancy Faeser wollte den Kampf gegen rechtsextreme Strömungen in Deutschland sogar schon im Kindergarten beginnen lassen. Aber ist Politik wirklich ein Thema für Kita-Kinder? Was bedeutet politische Bildung eigentlich genau? Und wie können pädagogische Fachkräfte Kindern demokratische Bildungsprozesse eröffnen? Im Interview berichtet Christine Ringelstetter, Leiterin der Kita St. Elisabeth in Ulm, wie Demokratie und Kindergarten zusammenpassen.

Frau Ringelstetter, dass Politiker die Kindergärten auch für die Demokratiebildung und im „Kampf gegen rechts“ in die Pflicht nehmen wollen – wie finden Sie das?

Das Thema ist grundsätzlich sehr wichtig und betrifft die ganze Gesellschaft, jede Familie, jeden Menschen. Aber es fällt mir schwer, Zuteilungen nach dem Muster vorzunehmen: „Das gehört in den Kindergarten, dieses in die Schule, und jenes muss man in der Ausbildung behandeln…“ Oft wird ein Thema unter einem Schlagwort zusammengefasst und dann abgeschoben, irgendwo verortet und dort ist man verantwortlich oder gar schuld, wenn es nicht funktioniert.

Ist es denn zu früh, in der Kita Demokratie zu lernen?

Es gibt Themen, die für mich vor der Demokratiebildung stehen: etwa das Thema Sprache, sich mitteilen können: Was ist mir wichtig? Was ist dir wichtig? Aushandeln. Dann das Thema Respekt, Wertschätzung. Jeder und jede ist ein Mensch. Jeder Mensch ist wichtig, wie der katholische Glaube uns auch lehrt. Die Würde des Menschen ist unantastbar, wie es auch im Grundgesetz festgeschrieben ist. In der Kita sind das die Grundthemen. Erst wenn das gelebt und verstanden wird, dann komme ich ganz automatisch auf das Thema Demokratie. Ich erlebe es ganz oft, dass dieses Thema in vielen Kitas schon vorhanden ist und auch wunderbar funktioniert: Familien der verschiedensten Nationen und Religionen kommen sehr friedlich miteinander klar. Die Kita ist hierfür ein geschützter Rahmen. Innerhalb dieses Rahmens begegnen sich alle – respektvoll, wertschätzend – und das funktioniert komischerweise wunderbar.

Werden da also von der Politik die berühmten Eulen nach Athen getragen?

Die Frage muss doch andersrum lauten: Wie übertragen wir das funktionierende System aus einer Kita in die Gesellschaft? Warum funktioniert es dort und nachher irgendwann nicht mehr? In der Kita begegnet ein junger Mensch anderen Menschen, die vielleicht eine andere Hautfarbe haben oder eine Beeinträchtigung, andere Haarfarbe, andere Augenfarbe, die anders sprechen, sich anders bewegen – und trotzdem bekommen wir ein gutes Miteinander hin. Wo ist also der Punkt, an dem aus einem Miteinander ein Gegeneinander wird?

Wie lautet Ihre Antwort?

Ein großes Thema ist Akzeptanz: Kann ich akzeptieren, dass ein anderer Mensch ein anderes Lebensmodell hat? Das Akzeptieren von anderen Entwürfen ist oft das Thema, das Ablehnung hervorruft. Es gibt ja Lebensmodelle, die ich mir nicht vorstellen könnte, weil ich so nicht sozialisiert bin, aber in manchen Familien funktionieren sie, und zwar wunderbar. Wir sollten das Eigene anderen nicht überstülpen und sie nicht belehren. Andere zu belehren hat immer auch mit Bewerten und Wertigkeit, Ranking, letztlich mit Abwertung zu tun. Dies erleben junge Menschen oft in den Schulen. Ein weiteres wichtiges Thema ist Frustrationstoleranz. Wie viele Erwachsene gibt es, die nicht mit Frustration umgehen können … Und dann sollen Kinder schon verhandeln, Mehrheitsbeschlüsse mittragen und eigene Bedürfnisse hintanstellen. Das kann meiner Meinung nach nur mit guten Vorbildern umgesetzt werden.

Ist das ein Thema im Kindergarten?

Gefühle äußern, eigenes Verhalten reflektieren, mit Frust umgehen – das sind große Themen im Kindergarten. Wie verhalte ich mich, wenn jemand anderer Meinung ist? Hau ich zu oder sage ich: „Hey, jetzt müssen wir mal kurz sprechen: können wir verhandeln, einen Kompromiss finden?“ All diese Themen finden tagtäglich in den Kitas statt und sind sehr konkret, sehr praktisch. Daran können wir arbeiten: Kinder in einer Konfliktsituation begleiten, um eine Lösung zu finden, Lösungsstrategien anzuwenden. Begleitend sind Themen wie Beschwerdemanagement und Partizipation unabdingbar.

Wie groß ist eigentlich das Potenzial, Demokratie im Kindergarten sinnvoll einzuüben? Fachleute weisen darauf hin, dass Kinder im Alter bis drei Jahren erstmal damit beschäftigt sind, sich selbst zu entdecken …

Wenn die Theorie auf die Praxis trifft... Das sind junge Menschen, die ihren Platz in der Welt haben. Als allererstes ist es aber ihre Aufgabe, sich selber kennenzulernen. In der Politik geht es manchmal sehr theoretisch zu – und da ist Demokratie nicht das einzige Wort. Was ist Rechtsruck konkret? Was ist in meinem Verhalten demokratisch? Wenn ich mit einer Kollegin spreche: „wir machen eine Woche Demokratiebildung“ oder „du musst jetzt demokratisch arbeiten“, dann schaut sie mich an und sagt: „ja nett…“. Dann passiert bei den Kindern aber noch nichts.

Sondern?

Demokratie und viele andere Themen finden in einem respektvollen, wertschätzenden Miteinander statt. Wir gehen zum Beispiel den Wochenplan durch: Wo können die Kinder konkret eine Entscheidung treffen? – „Aha, an diesem Tag wird mit den Kindern gekocht, da wird abgestimmt: Gibt’s Suppe oder Salat?“ Dann ist es sehr konkret. Auch das ist Demokratie. Was für mich gar nicht geht, sind pseudo-demokratische Entscheidungen nach dem Motto: „Du darfst entscheiden, aber ich mache nachher sowieso, was ich will“.

Zumal es ja auch Sachen gibt, bei denen es nichts zu entscheiden gibt… 

… weil es gefährlich oder gar lebensbedrohlich wäre, wie die banale Frage: „Gehen wir bei Rot oder bei Grün?“ Ich möchte den Kindern auch vermitteln, dass Entscheidungen Konsequenzen nach sich ziehen, auch im sozialen Miteinander. Das wird manchmal vergessen. Alle haben Rechte, aber was ist mit den Pflichten? Aber das ist ja auch für Erwachsene oft schwer auszumachen …

Sie haben die Bedeutung guter Vorbilder schon angesprochen: Was bedeutet das für die Arbeit der Erzieherinnen und Erzieher?

Ein Thema ist das Bewusstsein und die professionelle Haltung im Team. Dass jeder ein demokratisches Grundverständnis hat, dass jeder nicht nur politisch demokratisch aufgestellt ist, sondern eine Offenheit in sich trägt. Das ist manchmal ein Stückweit Arbeit: Selbstreflektion, kombiniert mit Fachwissen. Sich dafür Zeit zu nehmen, ist ein ganz wichtiger Faktor, damit pädagogische Fachkräfte verinnerlichen, warum es wichtig ist, demokratisch in der Einrichtung zu arbeiten und den Alltag demokratisch zu gestalten – ohne dass gleich gelabelt wird: „Da muss jetzt Demokratie draufstehen“.

Kinder, Familien, Helfen - die Serie

Die Diözese Rottenburg-Stuttgart hatte 2024 den Vorsitz der „Konferenz der evangelischen und katholischen Kirchenleitungen Baden-Württemberg und ihrer Spitzen- und Trägerverbände über Kindergartenfragen“ (4 KK-KiTa) inne. Aus diesem Anlass startete eine Serie über das diözesane Engagement im katholischen Württemberg bei der frühkindlichen Bildung. Aus unterschiedlichen Blickwinkeln heraus stellen wir dieses vielfältige Engagement vor.

Die Beiträge zur Serie finden Sie hier.

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