Notfallseelsorge

Messerstecherei, Panik und Suizid

Die Seelsorger:innen und Polizist:innen führen die Betroffenen aus dem Hof.

Polizei und Notfallseelsorge kümmern sich um die gemimten Augenzeugen der Messerstecherei - Foto: DRS/Waggershauser

Bei einer Großübung der Notfallseelsorge in Biberach proben Rettungskräfte das Zusammenwirken in der Betreuung.

Kurz nach 9.30 Uhr - überall Blaulicht und Martinshorn. Mehrere Rettungswägen biegen in den Hof ab. Ein Mannschaftsfahrzeug der Polizei positioniert sich auf dem Parkplatz gegenüber. Schwer bewaffnet stürmen Beamt:innen das Atrium des Alfons-Auer-Hauses in Biberach. Dort ist bei einer Leiterschulung der katholischen Jugend nach dem Morgenimpuls ein Streit zwischen zwei Teilnehmern eskaliert. Ein langjähriges Mobbingopfer zieht ein Messer und geht auf seinen mutmaßlichen Peiniger los. Sechs Personen, die dazwischengehen, sind verletzt. Der Täter verschwindet mit seiner Freundin im Keller. Es herrscht großes Durcheinander.

Das Szenario wird an diesem Morgen von Mimen gespielt. Die Einsatzkräfte aber sind real und kannten das Geschehen im Vorfeld nicht. „Es ist wichtig, unter Stress Hand in Hand zu arbeiten“, erklärt Thomas Lerner von der ökumenisch getragenen Notfallseelsorge in Biberach den Hintergrund. Zusammen mit Leiterin Iris Espenlaub und anderen hat er die Großübung organisiert und die Handlung erdacht. Im Vergleich zu anderen Probeeinsätzen der Blaulichtfamilie steht an diesem Tag weniger die Rettung Verletzter, sondern die Betreuung der Betroffenen und deren Angehörigen im Mittelpunkt.

Mit Ruhe und Aufmerksamkeit

Die Polizei sichert das Gebäude, schickt die Teilnehmenden der Veranstaltung nach draußen und bringt die Verletzten zu den Rettungswägen. Erst im Hof können die Betreuungskräfte der Polizei und die mitalarmierten überwiegend ehrenamtlichen Seelsorger:innen der Psychosozialen Notfallversorgung die Betroffenen übernehmen. Sie verteilen sich auf die Augenzeug:innen des Geschehens und gehen zuerst auf die zu, die unter Schock stehen oder sich auffällig verhalten. Mit Ruhe und Aufmerksamkeit suchen sie das Gespräch, lassen die Betroffenen erzählen oder sind einfach in ihrer Nähe, wenn Worte nicht angebracht scheinen.

Im benachbarten evangelischen Martin-Luther-Gemeindehaus können sich Helfende und die meist jugendlichen Schulungsteilnehmer:innen auf Stühlen oder auf dem Boden zusammensetzen. Bald schon stürmen erste Angehörige aufgebracht herein. Handynachrichten und teilweise sogar Videos der Messerszene haben sie elektrisiert. Die Führungskräfte der Betreuungsdienste versuchen zu beruhigen und helfen, die jeweiligen Familien zusammenzubringen. Immer wieder kollabieren Einzelne, die das Deutsche Rote Kreuz (DRK) umgehend versorgt. Andere wollen zum Tatort zurückkehren und fehlende Personen suchen. Sie müssen im Raum bleiben.

Unsicherheit schier unerträglich

Nico Kohler, so sein fiktiver Name, gehört mit Freundin Jana zu den Vermissten. Sein Vater Peter will sofort zu ihm. Der 81-jährige Opa büchst immer wieder aus und macht einen verwirrten Eindruck. Cousine Verena war beim Seminar dabei und hat im Video festgehalten, dass Nico mit dem Messer zustach. Polizei und Notfallseelsorge bringen die Familie in einen separaten Raum im Obergeschoss. Die Betreuer:innen stellen sich vor, bieten Getränke an. Und sie hören zu, während die Angehörigen vom Mobbing an dem eher introvertierten 16-Jährigen erzählen, von seinem Schulwechsel, und mal aufbrausend, mal deprimiert nach dem Warum fragen.

Die Zeit scheint stillzustehen - schier unerträglich. Verena verzweifelte bereits, als die Polizei so lange nicht kam und sich dann im Auer-Haus erst mal einen Überblick verschaffen musste. Peter droht mehrmals zu gehen und beschuldigt die Polizei, ihn nur hinzuhalten. In stoischer Ruhe erklären Beamte und Seelsorger:innen die Abläufe im Detail und versichern, dass sie nirgends die Infos früher bekommen als hier. Überzeugen können sie den Vater nicht, der seinen Sohn bereits zu Hause wähnt, aber sichtlich beruhigen. Bis nach einer gefühlten Ewigkeit die Hiobsbotschaft eintrifft: Nico und Jana haben sich das Leben genommen.

Den Suizid verkraften

„Ich bin jetzt für Sie da“, sagt die Seelsorgerin, die mit einer Polizistin die Todesnachricht überbrachte, zu Peter. Der Vater braucht erst mal Ruhe - und sie lässt ihn. Der Opa heult sich in den Armen eines anderen Seelsorgers aus. Peter redet dann doch und schwankt zwischen Verdrängen und der Suche nach dem Schuldigen. „Das ist verständlich, dass Sie nach dem Schuldigen suchen“, entgegnet die Seelsorgerin und lässt das so stehen. Da es eine kirchliche Veranstaltung war, bietet sie ein Gebet an, drängt es aber nicht auf. Als der erste Schock überwunden scheint, helfen die Betreuer:innen, die Heimfahrt der Familie zu organisieren.

Dann verlassen die Mimen ihre Rollen und atmen zuerst einmal tief durch. Rettungsdienste und Notfallseelsorge bescheinigen ihnen, dass sie die Personen sehr realistisch dargestellt haben. Und die Laienschauspieler fühlen sich von den Diensten optimal begleitet, wobei nicht so sehr einzelne Worte, sondern die gesamte Atmosphäre und die gelungene Balance zwischen Nähe und Distanz zähle. „Wir haben ganz viel gelernt“, erklärt Thomas Lerner. Alle Beteiligten würden die Übung zusammen mit den externen Beobachtern noch konkret auswerten und ihre Schlüsse ziehen. Auch wenn so ein Fall hoffentlich nie eintritt, fühlen sich die Helfer:innen dafür gewappnet.

Weitere Informationen

An der Großübung in Biberach waren am Samstag, 26. Oktober, etwa 160 Personen beteiligt, darunter 40 Notfallseelsorger:innen aus Biberach, Heidenheim und Ulm, also dem Gebiet des dortigen Polizeipräsidiums, 23 Polizist:innen des Reviers Biberach, 46 Notärzte und Rettungssanitäter des DRK, etwa 50 Mimen und neun externe Beobachter:innen. Die Notfallseelsorge im Landkreis Biberach ist ein von der katholischen und evangelischen Kirche getragenes ökumenisches Angebot, das sich überwiegend durch Spenden finanziert.

Außer einem evangelischen Pfarrer, einem katholischen Diakon und der geschäftsführenden Leiterin engagieren sich die ausgebildeten Seelsorger:innen ehrenamtlich. Sie bieten Betroffenen eine Begleitung in den ersten Stunden in verschiedensten akuten Notfall- und Krisensituationen. Dazu arbeiten sie mit den Einsatzkräften von Polizei, Rettungsdienst und Notarztsystem, der Feuerwehr und anderen Behörden und Organisationen zusammen und ergänzen das Hilfeleistungsangebot.

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