Betriebsseelsorge

Mit Leib und Seele im Einsatz

Betriebsseelsorge auf Stuttgart 21 feiert zehntes Jubiläum

Peter Maile (2.v.re.) ist für die Arbeiter auf der Großbaustelle S21 seit zehn Jahren Betriebsseelsorger und Kollege zugleich. Bild: Eva Wiedemann

Vor zehn Jahren hat Stuttgart 21 als erste Großbaustelle in Deutschland einen eigenen Betriebsseelsorger bekommen.

Das Konzept feiert somit sein zehntes Jubiläum. Sich um die mehr als 5.000 Arbeiterinnen und Arbeiter von Ulm bis Stuttgart zu kümmern, ist eine ganz besondere Aufgabe. Übernommen hat sie von Beginn an Betriebsseelsorger Peter Maile. Er ist im wahrsten Sinne des Wortes mit Leib und Seele im Einsatz. Denn um eine Verbindung zu den meist männlichen Arbeitern herzustellen, packt der 61-Jährige selbst mit an. „Mit den Männern zu arbeiten, ist hier auf der Baustelle der Weg der Seelsorge. So bin ich echt und authentisch für die Kollegen. Ich setzte mich den gleichen Lasten aus und erlebe den schweißtreibenden Alltag der Arbeiter, mache mich dreckig und bin mir für nichts zu schade. Das schätzen die Leute“, berichtet er. Schutzhelm, orange Weste und Sicherheitsschuhe zählen zu seinem Outfit auf der Baustelle. Auf dem Rücken seiner Weste prangt in weißen Buchstaben das Wort „Betriebsseelsorger“.

Den Menschen im Blick

Peter Maile ist seit 1996 Diakon und hat seine Berufung auf dem zweiten Bildungsweg realisiert. Zunächst hat er Heizungsbauer gelernt und sein handwerklicher Hintergrund ist auf der Großbaustelle ein Plus. Denn auch dieser stellt Nähe zu den anderen Handwerkern her. Aus den politischen Diskussionen rund um Stuttgart 21 hält Peter Maile sich raus; ihn geht es einzig um die Menschen, die auf der Baustelle die unterschiedlichen Gewerke ausfüllen. Sein Büro ist zwar ganz in der Nähe der Baustelle im Stuttgarter Zentrum, aber die meiste Zeit ist Peter Maile auf der Baustelle. Wer ihn und seine Arbeit kennenlernen will, muss deshalb rund elf Meter in die Tiefe steigen. Denn der neue Stuttgarter Hauptbahnhof wird eben diese elf Meter tiefer liegen als das derzeitige Gleisniveau.

Auf der Baustelle wird geduzt: Einen Herrn Maile gibt es dort nicht, aber Peter ist allgegenwärtig. In der künftigen Bahnhofshalle angekommen, begrüßt er Bauarbeiter, die seinen Weg kreuzen, fragt, wie es geht und klärt offene Themen. Die großen Maschinen dort unten geben viel Wärme ab. Die Luft ist voller Staub. Der Lärm der Maschinen dringt durch den Untergrund, wo das Tageslicht nur rar durchscheint. Deshalb erhellen Baustellenstrahler die Tunnelröhren und die große Bahnhofshalle, durch die in einigen Jahren die Reisenden schreiten werden. Wie viel harte Arbeit hinter dem Bauprojekt Stuttgart 21 liegen wird, werden sie nur erahnen können.

Sorge um Beziehungen teilen alle

Peter Maile weiß das ganz genau. Er kennt die Tunnelbauer, Mineure genannt, die zehn Tage am Stück hier arbeiten und dann für fünf Tage in ihre österreichische Heimat zurückfahren. Und die polnischen Arbeiter, die meisten sind Betonbauer, die alle sechs Wochen zu ihren Familien reisen; ähnlich wie die Bulgaren und Rumänen. Neun Monate am Stück sind die Arbeiter aus der Türkei auf der Baustelle. Dann dürfen sie für drei Monate nach Hause. Ein buntes Sammelsurium an Arbeitsnomaden, um die sich der Betriebsseelsorger kümmern soll. Bei weitem sind nicht alle katholisch oder christlich. Für ihn aber kein Thema: „Für mich zählt nicht die Religion, sondern der Mensch“, sagt Peter Maile. 

Die meisten von ihnen teilen eine Hauptsorge: Wie pflege ich die Beziehung zu meiner Frau und meinen Kindern? „Viele Beziehungen gehen zu Bruch, wenn sie nur am Wochenende oder mit langen Trennungen geführt werden“, berichtet der Diakon. „Denn im Grunde werden zwei Leben getrennt voneinander geführt. Die Ehe ist dann die Schnittmenge dieser beiden Leben. Die muss gut austariert sein, sonst geht die Beziehung auseinander.“ Peter Maile setzt sich mit den Männern hin und hilft ihnen, aktiv am Funktionieren ihrer Beziehung zu arbeiten und diese nicht einfach aufzugeben. Wichtig dafür ist auch eine gute Infrastruktur in den Unterkünften. Oftmals leben die Arbeiter in Containern. Der Betriebsseelsorger setzt sich dort beispielsweise dafür ein, dass WLAN Standard wird und die Männer per Skype und WhatsApp mit ihren Familien in Kontakt bleiben können. „An den Kosten darf dies nicht scheitern. Denn ein zufriedener Mitarbeiter, ist ein guter Mitarbeiter“, so Maile.

Ansprechpartner für alle Probleme

Natürlich ist das beengte Leben dort auch nicht immer einfach oder private Probleme wie kranke Angehörige belasten die Kolleginnen und Kollegen, berichtet er. „Dreiviertel ihrer Probleme bringen die Menschen hier von außerhalb mit auf die Baustelle. Deshalb ist es gut, wenn es mich hier auch dafür als Ansprechperson gibt. Das ist das Alleinstellungsmerkmal der Betriebsseelsorge auf dieser Baustelle.“

Stets neu Vertrauen aufbauen

Ein weiteres Alleinstellungsmerkmal der Betriebsseelsorge auf Stuttgart 21 ist, dass ständig neue Arbeiter vor Ort sind. Peter Maile muss sich daher laufen der Herausforderung stellen, das Vertrauen neuer Arbeiter aus den unterschiedlichsten Ländern zu gewinnen. Denn wenn ein Gewerk erledigt ist, kommen neue Kollegen – auf die Tunnelbauer folgen die Innenschaler, auf diese die Gleisbauer und dann die Kabelzieher und immer so fort. Der Seelsorger hat sich über die Jahre hat viel Fach- und Projektwissen angeeignet; das bringt ihm viel Achtung von den Männern entgegen. Zudem wissen sie schnell, wer Maile ist, und – ganz wichtig – dass er sein Wort hält und man ihm vertrauen kann.

Positiver Blick von außen

Steffen Weidner, auf der Großbaustelle für die Arbeitssicherheit zuständig, betrachtet den Betriebsseelsorger als Teil des großen Teams auf der Baustelle. „Es war eine absolute Premiere, dass es einen Betriebsseelsorger auf einer Großbaustelle gibt. Und es hat sich gezeigt, dass es sich sehr positiv auswirkt, wenn jemand von außerhalb vor Ort ist und mit anderen Augen über unsere vielfältigen Aufgaben schaut“, erläutert Weidner. Er und Maile sind nicht nur Teil des Baustellenteams, sondern auch Partner im Arbeitnehmernetzwerk S21, zu dem beispielsweise auch die Betriebsräte, das Bergbauamt oder die Personalverantwortlichen zählen. „Das Netzwerk trifft sich regelmäßig zum Austausch und setzt sich für eine saubere Baustelle und würdige Arbeit ein“, berichtet Maile. „Wie ein roter Faden zogen sich über die Jahre hinweg die großen Themen wie zum Beispiel gerechte Löhne und die Entsenderichtlinien.“ Nicht missen möchte Maile die Kooperation mit der Beratungsstelle Faire Mobilität. Seit Anfang an arbeitet er mit den Kolleginnen und Kollegen sehr gut zusammen und ist dankbar über die Beratung in der Muttersprache.  „Sie ist, von unschätzbarem Wert“, sagt er

„Jesus hatte auch keinen Bollerwagen dabei“

Seine Art der Seelsorge beschreibt der Diakon als „aufsuchende Pastoral“. „Wenn ich raus gehe, bringe ich nur mich selbst mit – mit meinem Telefon, meiner Brille und etwas zum Schreiben“, sagt er. „Jesus hatte schließlich auch keinen Bollerwagen mit Prospekten dabei.“ Maile geht aktiv auf die Arbeiter zu, spricht sie an, teilt ihre Sorgen und Nöte – manchmal auch die eigenen. Dass ein wahres Sprachenwirrwarr auf Stuttgart 21 herrscht, ist für ihn eine Herausforderung, aber keine Hürde. Er passt sich und auch die Gottesdienste an, die er mit den Arbeitern feiert. „So ein Gottesdienst auf S21 muss geerdet sein und so, dass die Besucherinnen und Besucher ihn verstehen. Also kurz und knackig, allein schon wegen der Übersetzer und natürlich auch, weil die Leute den ganzen Tag gearbeitet haben und ihnen vielleicht schon der Magen knurrt.“ Seine Gottesdienste verbindet er manchmal mit kleinen Festen. „Wir müssen uns hier auf die Bauarbeiter einstellen und nicht anders herum“, ist er überzeugt.

Arbeiter dürfen sich nicht als moderne Sklaven fühlen

Für Maile ist offensichtlich, dass die Arbeiter auf der Baustelle erst mal ein Kostenfaktor sind. „Am meisten lässt sich hier am Personal sparen. Aber solange Menschen auf ihre Arbeitskraft reduziert werden, dürfen wir uns nicht wundern, wenn sie sich vorkommen wie moderne Sklaven“, bemängelt er und setzt sich beispielsweise für mehr Wertschätzung ein, indem er Arbeitern, die die Baustelle verlassen, für ihre Leistung ganz offiziell dankt. Was ihn ärgert, ist, dass Hygienestandards, die wegen Corona eingeführt wurden, nun schon wieder bröckeln. So habe es vor der Pandemie beispielsweise keine Möglichkeit für die Arbeiter gegeben, sich in den mobilen Toiletten die Hände zu waschen. Mit Corona änderte sich das, aber mit der Möglichkeit, sich impfen zu lassen, seien diese Waschbecken oftmals wieder weggekommen. „Es geht immer um die Kohle“, moniert Maile. Dabei verhinderten gute Hygienestandards insgesamt, dass die Männer krank würden. Er hat viele weitere Ideen im Kopf, um diesen mehr Wertschätzung entgegen zu bringen. „Wie wäre es beispielsweise, wenn es einmal die Woche im Tunnel einen Apfel geben würde oder eine Sonderpause, und wie wäre es, wenn die Arbeiter selbst für sich mehr Sorge tragen würden?“ Maile wird sich dafür einsetzen – für die Arbeiter mit ihren individuellen Anliegen und für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen insgesamt.

Arbeiter wünschen sich Betriebsseelsorge auch in München

Für den Bau der Stammstrecke in München, einer weiteren Großbaustelle, wurde nun ebenfalls eine eigene Stelle für die Betriebsseelsorge geschaffen. Die Stelleninhaberin ist eine Frau. Initiiert haben die Stelle jene Arbeiter, die von Großbaustelle zu Großbaustelle ziehen und mit Peter Maile einen Seelsorger mit Herzblut kennengelernt haben. Maile wünscht seiner Kollegin in Bayern alles Gute. Die Arbeitsnomaden aus aller Herren Länder brauchen jemanden, der sich um ihre Würde, ihre Sorgen und ihre Seele kümmert. Maile würde seinen Job sofort wieder antreten. „Meine Arbeit geht nur, weil ich ein Netzwerkarbeiter bin, weil ich Menschen und Vorgesetzte im Hintergrund habe, die mir den Rücken stärken, und weil es mir nicht schwerfällt, auf Menschen zuzugehen. Denn ich mag die Menschen“, sagt der Betriebsseelsorger. „In diesem Zusammenhang gefällt mir die Formulierung: Suchtet und ihr werdet mich finden in den Gesichtern der Menschen. Mich freut es, Gottes Antlitz in den Gesichtern zu entdecken.“

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