Tod und Trauer

Mitfühlen, nicht Mitleiden

Andreas Steiner ist Seelsorger für Familien mit schwerkranken Kindern. Er besucht sie zu Hause und begleitet sie auch über den Tod hinaus.

Andreas Steiner fährt durch eine herbstlich bewaldete, hügelige Landschaft. Er hat kein Büro – als Seelsorger verbringt er seine Arbeitszeit im Auto, im Zug, auf dem Rad und vor allem bei den Menschen zu Hause. Schließlich biegt er in eine Vorortstraße ab, parkt und klingelt an einem modern aussehenden Haus. Neben der Wohnungstür ist ein großer bemalter Storch aus Holz aufgestellt – Willkommen, Liam Carl.

Der Fünfzigjährige in leuchtend blauer Jacke wird von einem jungen Paar begrüßt. Er zieht seine Schuhe aus. Ramona und Dennis Dollinger führen ihn ins Wohnzimmer, wo ihr kleiner Sohn auf einer Spieledecke sitzt und sich mit Bauklötzen und einer Spielmatte, die mit Wasser gefüllt ist, beschäftigt. „Die findet er super, da kann er seine eigenen Wellen machen“, sagt Ramona. Steiner sagt dem Kleinen Hallo. „Du wirkst fitter als beim letzten Mal“, stellt er freudig fest. Der Eineinhalbjährige legt seine Händchen auf die Beine der Erwachsenen, die sich zwischen die Spielsachen um ihn herumsetzen – schaut ihnen aber nicht ins Gesicht. Denn Liam ist blind. Er leidet unter dem Zellweger-Syndrom, bei dem die Nerven zum Teil nicht mehr in der Lage sind, Informationen ans Gehirn weiterzuleiten. Dank seiner winzigen blauen Hörgeräte kann er Geräusche noch wahrnehmen – er greift nach Dingen, die er rascheln hört, legt sich auf ein musikspielendes Liederbuch und freut sich, wenn seine Mama ihn auf den Schoß nimmt und für ihn singt. Sie lächelt tapfer, der Blick ihres Mannes ist bedrückt und erschöpft. Sie erzählen Andreas Steiner, dass sie vergangene Nacht einige Alarme verschlafen haben, die anzeigen, dass Liam nicht genug Sauerstoff im Blut hat. „Wir fühlen uns wie schlechte Eltern– aber wir waren einfach so fertig und sind nicht aufgewacht“, gesteht Ramona Dollinger. Liam braucht im Moment nachts eine Sauerstoffmaske. Er duldet keinen Hautkontakt der Maske im Gesicht, daher kann sie nur vorgelegt werden. Die Folge ist, wenn er sich bewegt, muss die Maske nachbewegt werden. „Eine gute Nacht ist, wenn wir mal zwei Stunden durchschlafen“, fügt ihr Mann hinzu.

PALUNA – die ambulanten Palliativversorgung für Kinder und Jugendliche

Steiner hört aufmerksam zu. Als die beiden erwähnen, dass sie überlegen, ihre Eltern für ein paar Nächte in der Woche um Hilfe zu bitten, ermutigt er sie dazu. Der Seelsorger arbeitet im PALUNA-Team mit – der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung (SAPV) für Kinder und Jugendliche des Universitätsklinikums Tübingen. Palliativ bedeutet nicht unbedingt, dass jemand bald stirbt – aber es bedeutet, dass es keine Heilungsmöglichkeiten gibt. Das Team aus medizinischem Fachpersonal, psychosozialem Dienst und Seelsorge kommt wöchentlich zu den Patientinnen und Patienten nach Hause – so können sie in ihrem vertrauten Umfeld bleiben. Außerdem gibt es Notfallnummern, unter denen jederzeit jemand erreichbar ist – eine große Entlastung für die Familien, kann Steiner bezeugen.

Er sieht es als großes Geschenk, dass er den Familien seelsorgerischen Beistand leisten kann. Zum Teil fährt der gelernte Kinderkrankenpfleger und Pastoralreferent für ein Gespräch über eine Stunde zu den Betroffenen. „Dass das von der katholischen Kirche bezahlt wird, ist purer Luxus“, erkennt er an.

Herausfordernde Veränderungen im Alltag

Neben dem Besuch des PALUNA-Teams stehen für die Dollingers zweimal die Woche Physiotherapie, einmal Logopädie und meistens ein weiterer Arztbesuch an. Zudem bekommt der Eineinhalbjährige Frühförderung im Bereich Sehen und Hören und die Familie geht regelmäßig zum Hörakkustiker. Dazu kommt der bürokratische Aufwand: „Wir haben jetzt schon einen Ordner voll mit Krankenhaus- und Arztrechnungen“, seufzt die junge Mutter. Liam ist mit ihr privatversichert, so schießt die Familie das Geld vor. „Die Rechnungen einzureichen, manches nicht bezahlt zu bekommen, Widerspruch einzulegen… das kostet viel Zeit und Kraft.“

Die beiden sind froh, dass Dennis Dollinger seine Arbeitszeit auf dreißig Stunden pro Woche verringern konnte. Ramona Dollinger ist noch in Elternzeit, würde aber gerne bald wieder anfangen zu arbeiten. Das wird aber nur klappen, wenn Liam anfängt, richtiges Essen zu essen – denn die Umstellung vom Stillen hat bisher noch nicht funktioniert.

Achtsam mit der eigenen Psyche umgehen

Den beiden falle es manchmal schwer, die kleinen Probleme anderer ernst zu nehmen: „Die Grenzen verschieben sich“, stellt Liams Papa fest. „Blind, taub, zu wenig Sauerstoff, die Angst, dass er jetzt noch epileptische Anfälle bekommt – jede Einzeldiagnose ist ja an und für sich schon schlimm. Und dann kommt alles zusammen.“ Die beiden müssten außerdem mit vielen Unsicherheiten in der Pflege ihres Sohnes umgehen lernen – und mit seiner niedrigen Lebenswartung. Ramona Dollinger zieht die Augenbrauen zusammen: „Wenn er so viel Energie hat wie heute, ist es fast nicht begreifbar,“ meint sie und überlegt: „Wir verdrängen auch viel.“ Steiner bemerkt, dass es in Ordnung ist, sich nicht die ganze Zeit zu erinnern. „Wenn man die eigene Psyche nicht schont, hält man das sonst nicht aus.“

Ihr Mann ist froh, dass sie mit ihm über die Themen reden können: „Gerade, wenn man einen Tunnelblick hat und nur noch das Negative sieht, zeigt Andreas andere Seiten auf.“

Liam und sein Papa zeigen, was der Kleine schon gelernt hat: zum Beispiel versteht er das Wort „Nase“ und bewegt dann seinen Kopf hin und her. Er kann auch „Mama“ sagen, indem er schmatzt. Wenn Kinder mit Zellweger-Syndrom im Stande sind zu lernen, sei die Lebenswahrscheinlichkeit höher, sagt Ramona Dollinger hoffnungsvoll.

Vertrauen schafft die Basis für die Unterstützung

Bei seinen Besuchen lernt Steiner die Familien kennen, baut eine Verbindung auf. So kann er sie auf ihrem Weg begleiten und dank des gewonnenen Vertrauens für sie da sein, wenn die Kranken schließlich von ihnen gehen. Das PALUNA-Team begleitet die jungen Betroffenen in ihren letzten Tagen und Stunden, damit sie ohne Schmerzen versterben, stellt gegebenenfalls sicher, dass die Geschwister auf den Tod vorbereitet sind.

Zwei Tage später bringt seine seelsorgerische Arbeit Andreas Steiner zu einem Haus im Süden Tübingens. Von der Terrasse eröffnet sich ein weiter Blick auf das herbstliche Neckartal. Hier ist Steiner nach dem Tod des Kindes für die Angehörige da: Eva Franchina, die ihre 13-jährige Tochter vor knapp zwei Jahren verloren hat.

Die 55-Jährige empfängt ihn in ihrem Wintergarten. Überall sind Fotos von Verwandten aufgehängt, Andenken dekorieren die Kommode. Franchina schenkt Tee in weiß-blaue Tassen mit Strohblumenmuster ein. Andreas Steiner erinnert sich, dass ihre Tochter Mila meist neben ihnen in einem Schaukelstuhl saß. „Der steht jetzt hinten in meiner Mila-Ecke“, antwortet sie. „Dort sitze ich oft – schreibe Gedichte, Gedanken oder Gefühle in ein kleines Notizbuch, oder höre schöne Musik“, erzählt sie und fügt nach einer kurzen Pause hinzu: „Das heißt, wenn ich kann.“ Musik zu hören, ertrage sie seit dem Tod ihrer Tochter oft nicht. Es falle ihr auch schwer, sich auf ein Buch zu konzentrieren. Franchinas große braune Augen füllen sich mit Tränen, als sie fortfährt: „Und jedes Mal, wenn ich ihre Kuscheldecke wasche, fühlt es sich an, als würde ich ein Stück von ihr mit wegwaschen.“

Problematische Schwangerschaft

Franchina erzählt, dass bereits die Schwangerschaft mit Mila problematisch war – es gab Auffälligkeiten an den Nieren. Die letzten zwei Monate lebte sie mit nagender Ungewissheit: „Ich hab mich ziemlich übel gefühlt, weil ich gar nichts wusste“, erinnert sie sich. Mila kam mit einem seltenen Gendefekt zur Welt, dem Schinzel-Giedion-Syndrom: Es verursacht unter anderem starke Fehlbildungen in Gesicht und Skelett – Mila war schwerbehindert. Das Baby kam schnell auf die Intensivstation, hatte epileptische Anfälle. Nach einigen Wochen durften sie nach Hause. Allerdings nicht für lange: „Euer zweites zu Hause war die Kinderklinik“, bemerkt Steiner.

Pflege als Vollzeit-Job

Für Eva Franchina war die Pflege ein Fulltime-Job – sie machte für das Café ihrer Familie noch die Buchhaltung, für mehr blieb keine Zeit. Entlastung bot der Kindergarten für behinderte Kinder, den Mila nach ein paar Jahren besuchen konnte. Trotzdem war der Alltag durchgetaktet: Franchina gab Mila ihre Medikamente, zog sie an, kämmte und wickelte sie, sorgte für die Ernährung über die Magensonde. „Ich habe in meiner Welt mit Mila gelebt“, beschreibt Franchina die dreizehn Jahre. Ihre Tochter an andere abzugeben, fiel ihr schwer; je nach Milas Gesundheitszustand mussten Verabredungen spontan abgesagt werden. Was jedoch ging, war der jährliche Urlaub in Sizilien, bei der Familie ihres Mannes – dafür schickte sie zwei große Pakete mit Windeln, Verbandszeug und anderem voraus.

Abschied nehmen

Als sie vor zwei Jahren von dort wiederkamen, ging es Mila plötzlich schlechter – in der Klinik wurde Corona festgestellt. Die linke Lunge war zusammengefallen.

In den letzten Tagen seien die Familie und gute Freundinnen und Freunde noch Tag und Nacht bei Mila gewesen. Die Familie hatte angeordnet, keine unnötig lebensverlängernden Maßnahmen einzuleiten. Sie habe mit der Entscheidung gerungen, den Sauerstoff abzustellen, sagt Franchina mit zitternder Stimme. „Wir haben gemeinsam überlegt“, ergänzt Andreas. „Es war gut, dass ich die beiden schon gut kannte. Da hat man eine richtige Basis für so ein Gespräch und kann unterstützen.“

Schließlich entschied sie sich dafür. Eine halbe Stunde später verstarb Mila. „Sie hat ganz ruhig geatmet und sah so friedlich aus“, sagt Franchina mit einem schmerzvollen Lächeln. „Es war, als würde sie davonfliegen.“

Einerseits sei sie erleichtert darüber gewesen, dass Milas Leben, das sehr schwer gewesen sein musste, einen ruhigen und schönen Abschied gefunden hatte. Andererseits stand sie vor einer Leere: „Ich hatte das Gefühl, zu nichts mehr fähig zu sein - es ist mir schwergefallen, morgens aus dem Bett zu kommen.“ Diese Antriebslosigkeit erlebe er oft, meint Steiner. „Die Menschen haben einen Hochleistungsmarathon hinter sich – dann haben Körper und Geist das Bedürfnis, sich absolut zu erholen.“ 

Steiner begleitet die Angehörigen auch nach dem Tod

Dass Andreas Steiner auch nach dem Tod ihrer Tochter noch kommt, tut ihr gut. „Es ist alles weggebrochen – die Hospizaufenthalte, die Arztbesuche, mich um sie zu kümmern. Ich bin froh, dass unsere Gespräche geblieben sind.“ Steiner erinnert sich, dass sie sehr einsam gewesen war. Franchina bejaht – sie hätte plötzlich zu viel Zeit gehabt: „Ich vermisse es, Mila zu umsorgen. Und, sie in den Arm zu nehmen – das war Frieden pur.“

Im Winter nach ihrem Tod habe sie sich eingeigelt – dann langsam wieder zu arbeiten begonnen. „Was viele Leute nicht verstehen, ist, dass die Trauer nie weggeht“, meint Eva Franchina. „Sie bleibt das ganze Leben.“ Und, fährt sie fort, dass sie aus Rücksicht nicht mit einem über das Thema Tod redeten. „Ich weiß, dass da ganz viel Hilflosigkeit drinsteckt – aber es totzuschweigen ist viel schlimmer, als es anzusprechen.“

„In zehn Tagen ist ihr Todestag“, sagt Franchina. Die Trauer um ihre Tochter habe sich in dieser Zeit verändert. „Am Anfang war es eine Achterbahnfahrt, mit Stimmungsschwankungen von einem Tag zum nächsten“, erinnert sie sich. Das erste Jahr sei schwierig gewesen, weil sie viele Sachen zum ersten Mal ohne Mila gemacht habe: Ihren Spazierweg gegangen, Weihnachten, Geburtstage, Urlaube erlebt. Das hätte sich jetzt in etwas Ruhigeres gewandelt: „Dieses Jahr bin ich gelassener, mit mehr Frieden.“

Mitfühlen, nicht mitleiden

Andreas Steiner weiß, dass es für die Nahestehenden wichtig ist, in Verbindung zu bleiben. „Zu sagen: ‚Du musst Loslassen‘ ist nicht immer das Beste“, sagt er. Denn die Trauer entstehe durch den Verlust von geliebten Menschen – und diese Nähe wiederzubekommen, kann sehr tröstend sein. Deshalb gibt er den Familien Armbänder mit – für das kranke Kind, die Geschwister und die Eltern. Das Bändchen kommt dann mit ins Grab, sodass die Verbundenheit bestehen bleibt.

Wie Steiner es erträgt, all diese Schicksalsschläge mitzuerleben? Er könne gut zwischen Mitleid und Mitgefühl unterscheiden, meint er, als er durch den buntbelaubten Garten zur Straße schreitet. Außerdem würden seine Arbeitswege mit dem Rad helfen, bei denen er sich gut mit Luft durchpusten lassen könne. „Und wenn das nichts hilft, schaue ich mir die schlimmsten Sachen in der Glotze an, zum Beispiel den Bergdoktor“, meint er mit einem Zwinkern. „Das halbe PALUNA-Team liebt den Bergdoktor, obwohl wir alle wissen, wie unrealistisch es ist. Aber es ist leichte Kost – und man weiß, es geht immer gut aus.“

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