Flüchtlingshilfe

Orientierungsangebot in zwei Schritten

Orientierungshilfe zur Beurteilung der Vereinbarung der EU-Innenminister für eine Reform des Europäischen Asylsystems.

Von Joachim Drumm, Bischöflicher Beauftragter der Diözese Rottenburg-Stuttgart für Flucht und Migration, in enger Abstimmung mit dem Caritasverband der Diözese:

Am 8. Juni 2023 einigten sich die EU-Innenminister auf einen Kompromiss zur Reform des EU-Asylrechts. Er ist Grundlage für die anstehenden Verhandlungen mit dem Europäischen Parlament, das der Vereinbarung in vorgelegter oder veränderter Form. zustimmen muss.

Im Gefolge gibt es hierzulande Auseinandersetzungen darüber, ob die Bundesregierung dem Kompromiss hätte zustimmen dürfen oder nicht.

Die Kirchen sind gefragt, ihre Haltung zum gegenwärtigen Diskussionsstand zu finden und sich zu positionieren, sowohl als Beitrag für die weitere politische Ausgestaltung des europäischen Asylrechts als auch zur Orientierung.

Die Beurteilung und Bewertung des vorgelegten Kompromisses erfordert eine differenzierte Kenntnis dessen, was die Innenminister vereinbart haben.

In meiner Funktion als Bischöflicher Beauftragter der Diözese Rottenburg-Stuttgart für Flucht und Migration möchte ich eine Orientierungshilfe anbieten. In einem ersten Schritt stelle ich kurz dar, was die EU-Innenminister dem EU-Parlament zur Beschlussfassung vorlegen. In einem zweiten Schritt offeriere ich einige Orientierungspunkte zur persönlichen Urteilsbildung.

Was ist die Zielsetzung des Kompromisses?

Ziel des Kompromissvorschlags ist ein europaweites Asylsystem, das einerseits die europäischen Außengrenzstaaten – vor allem Griechenland und Italien – entlastet und zugleich die Interessen jener Staaten wahrt, die wie etwa Deutschland von Sekundärmigration betroffen sind. Denn es hat sich gezeigt, dass die bisherigen Regelungen (Dublin III) ihren ursprünglichen Zweck nicht erfüllen.

Mit dem erstgenannten Ziel verbindet die Kompromissvereinbarung als zweites Ziel eine deutliche Verschärfung des Asylrechts, um Migranten ohne realistische Bleibeperspektive abzuschrecken bzw. schnellstmöglich rückführen zu können. Wie sich zeigen wird, ergeben sich hieraus problematische Konsequenzen.

Die den Innenministern zur Diskussion offerierte Vorschläge wurde von der schwedischen Ratspräsidentschaft präsentiert. Die deutsche Bundesregierung stemmte sich lange gegen diesen Vorschlag, stimmte schlussendlich einer leicht entschärften Version zu, um ein Scheitern der Konferenz zu vermeiden.

Auf welche Elemente verständigten sich die EU-Innenminister?

Der dem Europäischen Parlament zur Verhandlung vorgelegte Rechtstext trägt den Titel: „Verordnung für Asyl- und Verfahrensmanagement“. Zum einen geht es um die Definition von Standards für das Asylverfahren, zum anderen wird festgelegt, welcher Staat wofür zuständig ist.

Und das wurde beschlossen: Schutzsuchende, die nur eine geringe Aussicht auf Anerkennung haben, sollen künftig ein beschleunigtes Verfahren durchlaufen. Vorgesehen ist eine Verfahrensdauer von maximal 12 Wochen einschließlich der Bearbeitung eingelegter Rechtsmittel. Der Gruppe mit geringer Aussicht auf Anerkennung werden generell jene Schutzsuchende zugeordnet, die aus Ländern kommen, deren Anerkennungsquote in den letzten Jahren unter 20 Prozent lagen.  Kritisch anzumerken ist bereits an dieser Stelle, dass bei einem solchen Vorgehen, die Statistik mehr Einfluss auf die Entscheidungsfindung hat, als die individuelle Prüfung des Einzelfalls. Der Einsatz von KI führt in solchen Fällen zur Verfestigung von vorgefertigten Meinungen aufgrund von Wiederholung.

Den Mitgliedstaaten ist es weiter freigestellt,  auch Schutzsuchende mit hohen Anerkennungsquoten und Schutzbedarf, z.B. Syrer*innen und Afghan*innen,  in das beschleunigte Grenzverfahren zuzuordnen, wenn diese z.B. über sog. sichere Drittstaaten eingereist sind.

Wer das beschleunigte Verfahren durchläuft, soll in bewachten und geschlossenen Einrichtungen untergebracht werden, um die illegale Weiterreise innerhalb der EU zu verhindern. Eine Ausreise in ein Land außerhalb der EU ist jederzeit möglich. Wird kein Schutz gewährt, kann die haftähnliche Internierung bis zu drei Monate fortgesetzt werden. Vom beschleunigten Grenzverfahren und damit von der Internierung ausgeschlossen sind unbegleitete Minderjährige.

Innerhalb der EU sollen insgesamt 30.000 solche Internierungsplätze für das beschleunigte Grenzverfahren eingerichtet werden. Bei einer Bearbeitungsdauer von max. 12 Wochen soll sollen somit jährlich bis zu 120.000 Personen das beschriebene Grenzverfahren unter haftähnlichen Bedingungen durchlaufen können. Die Zahl der von jedem EU-Land einzurichtenden Plätze wird aus den ermittelten illegalen Einreisen und Zurückweisungen während der zurückliegenden drei Jahre errechnet. Deutschland hat danach 400 Plätze bereitzustellen, Ungarn dagegen 8500, Italien 6200, Spanien 3500, Griechenland 1700. Ist ein einzelner Staat überlastet entscheidet die EU-Kommission über vorgesehene Solidaritätsmechanismen. Erfüllt ein Land die vorgeschriebene Quote nicht, muss es stattdessen 20.000 Euro pro nicht zur Verfügung gestelltem Platz zahlen. Das Geld fließt in einen von der EU-Kommission verwalteten Fonds.

Weiterhin wurde beschlossen, mit sogenannten sicheren Drittstaaten Abkommen zur Übernahme von Migranten zu schließen. Dabei soll – auf besonderes Drängen der Bundesregierung - berücksichtigt werden, dass es zwischen der abgewiesenen Person und dem Drittstaat Verbindungen gibt, zum Beispiel durch verwandtschaftliche und andere soziale Beziehung, die Sprache, einen früheren Aufenthalt oder durch kulturelle Nähe.

Das Ansinnen der Bundesregierung, nicht nur unbegleitete Minderjährige, sondern Familien mit Kindern von der haftähnlichen Internierung auszuschließen, fand nicht die erforderliche Unterstützung anderen EU-Staaten. Dass die Bundesregierung dennoch zustimmte, um überhaupt einen Kompromiss zu ermöglichen, ist ein zentraler Streitpunkt in der politischen Bewertung des Kompromisses hier in Deutschland.

Orientierungspunkte für eine Bewertung

Das Bemühen um ein reformiertes europäisches Asylsystem ist zu begrüßen. Das bisherige Dublin-System hat zu unhaltbaren Zuständen geführt. Acht Jahre lang haben die EU-Staaten vergeblich versucht, sich gemeinsam auf eine Reform des europäischen Asylrechts zu verständigen. Mit dem Kompromiss der EU-Innenminister ist dies gelungen, vorbehaltlich der Verhandlungen im EU-Parlament. Das reformierte Asylsystem kann zu einer Entlastung der Außengrenzstaaten führen, die Steuerung der Sekundärmigration in der EU verbessern und die Mitgliedsstaaten zur Solidarität verpflichten, sofern sie die Verpflichtung annehmen.  Dieser Aspekt ist positiv zu bewerten. Beschleunigte Verfahren sind grundsätzlich zu begrüßen, vorausgesetzt, sie werden den Schutzsuchenden, ihrer Situation und ihren Bedürfnissen gerecht und gewähren den Zugang zur rechtlichen Beratung im Verfahren. Wie schwierig es war, die Mitgliedsstaaten auf eine gemeinsame Lösung zu verpflichten, ist anzuerkennen.

Negativ zu bewertende Aspekte des Asylkompromisses ergeben sich aus der Absicht, das Asylrecht zu verschärfen und Menschen, die eine Flucht nach Europa erwägen, abzuschrecken. Zwar hat sich seit 2013 die Zahl mehr als verdoppelt. Das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) zählt weltweit 110 Millionen Menschen, die als Flüchtlinge, Asylsuchende, Binnenvertriebene und Schutzbedürftige ihre Heimat verlassen haben. Allerdings leben 70 Prozent in unmittelbarer Umgebung einer Konfliktregion. Die Türkei hat 3,5 Millionen Geflüchtete aufgenommen, der Iran 3,4 Millionen, im Libanon ist jeder fünfte Einwohner ein Geflüchteter.

Laut der Veröffentlichung des Statista Research Department vom 22.08.2022 lebten 2021 mehr als 2,8 Millionen Geflüchtete in der EU. Hinzu kommen die Geflüchteten aus der Ukraine. . 2022 wurden in der EU 966.000 Asylanträge gestellt.  Die EU zählt rund 446,8 Millionen Einwohner:innen. Eine objektive Überforderung der EU durch zu viele Schutzsuchenden, die Asyl beantragen,  lassen diese Zahlen nicht erkennen. Handlungsbedarf ergibt sich vielmehr aus der ungleichen Belastung und der bislang mangelnden europäischen Solidarität. Hinzu kommt, dass die Schutzsuchenden aus der Ukraine von der Verschärfung des Asylrechts überhaupt nicht betroffen sind.

In Deutschland wurden im Jahr 2022 244.132 Asylanträge gestellt. Von diesen werden wohl 60-70 Prozent nach Abschluss des Asylverfahrens in Deutschland bleiben. Hinzu kamen 1.045.185 Geflüchtete aus der Ukraine, die keinen Asylantrag zu stellen brauchen und zu einem großen Teil jedoch privat untergebracht werden konnten. Insgesamt leben in Deutschland über 2 Millionen Schutzsuchende, mit einen humanitären Aufenthaltstitel. Mit einem Bevölkerungsanteil von 18-19 Prozent an der EU-Gesamtbevölkerung nimmt Deutschland ca 25 Prozent der Asylsuchenden der EU auf. Angesichts der Wirtschaftsstärke und des Reichtums Deutschland ist die Belastung im europäischen Vergleich nicht unverhältnismäßig.

Die Zahl der Flüchtlinge und Migrant:innen, die über das Mittelmeer nach Europa kommen, ist seit 2016 gesunken, seit 2021 wieder angestiegen. 2022 erreichten 150.177 Menschen die Küsten Europas, vor allem über Spanien, Italien und Griechenland. Im Jahr 2023 (Stand 9. Juni 2023) sind laut Statista Research Department 1.166 Menschen bei der Flucht über das Meer gestorben. Seit dem Jahr 2014 sind bis zu diesem Zeitpunkt ca. 27.000 Menschen im Mittelmeer ertrunken. Angesichts der lebensbedrohlichen Gefahren, denen sich diese Menschen in ihrer Not aussetzen, erscheint es zweifelhaft, dass die Aussicht auf rasche Rückführung oder Abschiebung in ein Drittland begrenzende Wirkung zeitigen wird.

Das Ziel der Begrenzung der Flüchtlingszahlen durch Abschreckung führt im Ergebnis zu Rückschritten im Flüchtlingsschutz. Die Einigung der EU-Innenminister markiert eine deutliche Verschiebung vom Schutz derer, die Schutz suchen zum Schutz Europas vor gefühlter Überforderung.

Vor allem die haftähnliche Internierung schutzsuchender Menschen erscheint als überaus problematisch und weist den Weg in eine Richtung, die nicht befürwortet werden kann und abzulehnen ist. Die Erfahrungen in den großen Lagern in Italien und Griechenland lassen befürchten, dass die Menschen unter unzumutbaren Bedingungen untergebracht werden. Dass auch Familien mit Kindern drei Monate inhaftiert lang werden sollen, dürfte zu unhaltbaren Zuständen führen. Die Schutzsuchenden machen sich nicht leichtfertig auf den Weg. Sie haben Schlimmes durchlebt, viele sind traumatisiert. Sie benötigen Begleitung und Unterstützung. Kinder benötigen eine kindgerechte Umgebung und Ausstattung. Bleibt zu hoffen, dass im Falle der geplanten Realisierung der Internierungseinrichtungen entsprechende Standards eingehalten werden und eine unabhängige sowie ergebnisoffene Beratung und Begleitung sichergestellt wird. Dazu kommt, dass bislang nicht ersichtlich ist, wie und durch wen in diesen Einrichtungen an den Außengrenzen in der Kürze der Zeit effektiver und unabhängiger Rechtsschutz gegen die Entscheidung im beschleunigten Verfahren angeboten werden kann.

Es fragt sich, warum die EU-Innenminister sich nur mit dem schwedischen Vorschlag auseinandersetzten. Es hätte auch Alternativen für ein praxistaugliches gemeinsames europäisches Asylsystem gegeben. So stellte zum Beispiel das Kommissariat der Bischöfe in Kooperation mit dem Jesuiten-Flüchtlingsdienst Deutschland und dem Deutschen Caritasverband der Bundesregierung eigene Überlegungen vor. Nach diesem Vorschlag sollte zukünftig das Asylverfahren von der Europäischen Asylagentur verantwortet und durchgeführt werden. Die Registrierung, erkennungsdienstliche Behandlung und Sicherheitsüberprüfung kann in offenen und menschenwürdige gestalteten Registrierungszentren in Verantwortung der Asylagentur erfolgen. Die Asylagentur beschränkt sich auf diese Aufgaben und entscheidet daraufhin umgehend, in welchem EU-Mitgliedsstaat das Asylverfahren durchgeführt wird. Dabei spielen familiäre, sprachliche, kulturelle und soziale Verbindungen der Asylsuchenden zu einem Land eine besondere Rolle. Angemessene und menschenwürdige Unterbringung wird durch die Außenstellen der Asylagentur in jedem EU-Mitgliedsland sichergestellt. Im Falle der Anerkennung eines Schutzstatus‘, wird finanzielle Unterstützung zur Integration gewährt. Sofern der Lebensunterhalt eigenständig gesichert werden kann, ist auch der Umzug in eine anders Mitgliedsland möglich.

Der Vorschlag stellt auch Schritte vor, wie dieses Lösungsmodell ausgehend von der gegenwärtigen Regelung sukzessiv erreicht und umgesetzt werden kann.

Der skizzierte Alternativvorschlag zeigt in eine deutlich andere Richtung als der Kompromissbeschluss der EU-Innenminister. Er ist geeignet, den Druck auf die Aufnahmeländer zu verringern, die Solidarität zwischen den europäischen Staaten zu implementieren, Verfahren zu beschleunigen und Rückführung zu ermöglichen, ohne Abstriche beim Flüchtlingsschutz und der Kultur humanitärer Aufnahmebereitschaft zu machen. Er wird weitaus besser den Vereinbarungen des Globalen Migrationspaktes und des Globalen Flüchtlingspaktes gerecht, an dessen Aushandlung die Kirchen begleitend und unterstützend mitgewirkt haben.

Flucht und Migration haben weltweit stark zugenommen. Es ist davon auszugehen, dass sich diese Entwicklung fortsetzen wird. Die Folgen des Klimawandels werden die Tendenz noch weiter verstärken. Gerade deshalb reicht es nicht aus, auf Begrenzung zu setzen. Härte und Abschreckung ist der falsche Weg. Vielmehr ist es erforderlich, grundlegender darüber nachzudenken, wie weltweite Solidarität und Eigenverantwortung, ein menschenwürdiges Leben und soziale Gerechtigkeit gestärkt werden können. Flüchtlings- und Asylpolitik kann nicht isoliert von den Herausforderungen einer künftigen Weltordnung gestaltet werden. Die Errichtung realer oder juristischer Mauern ist keine zukunftsträchtige Lösung. Europa kann sich nicht abschotten. Keine Mauer kann hoch genug sein, Flucht und Migration zu stoppen. Es gilt vielmehr, national und international die politischen Rahmenbedingungen zu schaffen für ein von Solidarität, Humanität und Hilfsbereitschaft geprägtes Zusammenleben in einer von Flucht und Migration geprägten Welt.

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