Seelsorge

Seelsorge für die Seelsorger:innen in Extremsituationen

In Extremsituationen arbeit die Polizei eng mit den ökumenischen Polizeiseelsorger:innen im Land zusammen. Bild: Noe Nei auf Pixabay

Hat sich die Stimmung bei der Polizei seit den tragischen Vorfällen in diesem Jahr geändert? Interview mit Landespolizeidekan Dr. Hubertus Liebhardt.

Seit Diakon Dr. Hubert Liebhardt im April 2024 sein neues Amt als Landespolizeidekan übernahm, hatte er kaum einen Tag Routine oder Ruhe. Liebhardt unterstützte seine Polizeikolleg: innen vor Ort, als am 31. Mai der Polizeibeamte Rouven L. (29) durch eine Messerattacke so schwer verletzt wurde, dass er seinen Verletzungen erlag. Er begleitet seine Polizeikolleg:innen immer dann, wenn ihr polizeiliches Handeln belastend wird, wenn sie bei schwierigen Einsätzen hautnah mit den dunklen Seiten menschlichen Lebens konfrontiert werden und sich bei den Kolleg:innen Beeinträchtigungen im körperlichen und seelischen Gleichgewicht einstellen.

Liebhardt ist zwar Landespolizeidekan für die katholische Seite, da es jedoch keinen evangelischen Landespolizeidekan gibt, ist er in Amtsfusion für zwei Jahre auch Vorsitzender der Landesarbeitsgemeinschaft aller vier Kirchen in Baden-Württemberg - und somit Ansprechpartner gegenüber der obersten Polizeiführung. Denn, so Liebhardt: „Die Ökumene in der Krisenseelsorge für Polizeikräfte arbeitet nahtlos zusammen. Die Seelsorger:innen beider Konfessionen tauschen Informationen über aktuelle Einsatzlagen aus und unterstützen sich gegenseitig.“ Ein Interview mit Dr. Hubert Liebhardt über die aktuelle Situation bei der Polizeiseelsorge:

Herr Dr. Liebhardt, seit Sie im Amt sind, wurden zwei Polizeikollegen während ihres Dienstes getötet. Sind, auch seit der Extremsituation in Solingen, mehr Polizeiseelsorger:innen im Einsatz als vorher?

Im Moment sind zwanzig Polizeiseelsorger:innen beider Konfessionen in Baden-Württemberg im Einsatz, wobei die Stellenanteile zwischen 10 Prozent und 100 Prozent schwanken. Wir sind mit beiden Konfessionen auch seit den Vorfällen in Mannheim und Solingen routinemäßig aufgestellt, mehr Polizeiseelsorger: innen als vor den Ereignissen gibt es vor Ort nicht. Bei erhöhtem Bedarf greifen die Seelsorger: innen auf andere Dienstzweige der Seelsorge aus.

Hat sich die Stimmung bei der Polizei seit den tragischen Vorfällen in diesem Jahr geändert? Beschreiben Sie bitte die Sorgen und Ängste innerhalb der Polizei.

Es herrscht seitdem große Betroffenheit und die Anteilnahme und Trauer innerhalb der Polizei war und ist flächendeckend sehr hoch. Polizeibeamte wissen um die Gefährlichkeit ihres Berufs und das erhöhte Risiko, das Leben im schlimmsten Fall zu verlieren. Demgegenüber steht eine erstklassige Ausbildung und das absolute Vertrauen in die Kolleg:innen während eines Einsatzes. Die Polizei ist mit ihren Spezialeinheiten auf Großereignisse hervorragend vorbereitet.

Wie helfen Sie und Ihre Polizeiseelsorgekollegen, um mit solchen Tragödien klar zu kommen?

Als erstes bieten wir eine aufsuchende Seelsorge: Einfach Da-Sein. Wir sind zum Beispiel bei Todesnachrichtüberbringungen mit Polizeiführung bei den betroffenen Familien dabei und haben auch eine Kooperation mit der Psychosoziale Beratung. Für die Kolleg: innen bieten wir eine Dienstgruppenbegleitung in die standardisierte Nachbereitung an.

 

Wie gehen Sie persönlich mit solchen extremen Situationen um?

Mein Blick richtet sich auf die Betreuungspersonen, insbesondere auf unsere Kräfte aus der Polizeiseelsorge. Meine Aufgabe ist es, Seelsorge für die Seelsorger:innen zu leisten, ihnen Unterstützung anzubieten, immer ein offenes Ohr für sie zu haben. Und ihnen auch mal den Rücken freizuhalten, indem ich zum Beispiel Parallelveranstaltungen zur Entlastung der eingesetzten Kollegen übernehme. Ich biete auch Supervision und Nachbereitung an.

Und wer hilft Ihnen bei der Verarbeitung solcher extremen Vorfälle?

Vor allem das Kollegium und meine Familie, aber auch die Supervision und eine geistliche Begleitung.

Bevor Sie im April zum Landespolizeidekan in Baden-Württemberg ernannt wurden, waren Sie bereits seit 10 Jahren Polizeiseelsorger. Was hat sich für Sie persönlich geändert?

Der Fokus meiner Arbeit liegt weiterhin auf der Basisarbeit der Polizeiseelsorge. Natürlich haben sich aber sowohl die Erwartungshaltung seitens mir vertrauter Polizeiführer als auch mein Rollenprofil und meine eigenen Erwartungen an mich geändert. Ich habe heute einen neuen Blick für die Zusammenhänge. Ebenso hat sich mein Wirkungsfeld vergrößert. Mein Blick geht jetzt zusätzlich auf die Kolleg: innen in Baden statt bisher ausschließlich auf die in Württemberg-Süd. Auf meiner Browser-Startseite sehe ich die Polizeimeldungen für gesamt Baden-Württemberg.

Wie sieht ein Arbeitstag bei Ihnen aus?

Die Vielfalt der Aufgaben ist unglaublich. Bei mir ist kein Tag wie der andere und oft ergeben sich durch Akutanfragen kurzfristige Wochenplanänderungen und veränderte Arbeitszeiten. Montag ist mein Bürotag. Dienstag und Mittwoch habe ich Seminartage als Lehrbeauftragter für Berufsethik an der Hochschule für Polizei Baden-Württemberg am Campus Villingen-Schwenningen. Donnerstags unterrichte ich Berufsethik an der Polizeischule - ab September wieder verstärkt. Freitags arbeite ich im Bereich der Langzeitbetreuung in der Einzelseelsorge. Dazu kommen meine regionalen Zuständigkeiten bei einer direkten, einsatzbezogenen Alarmierung durch die Koordinationsstellen der Polizei wie etwa der Psychosozialen Beratung oder dem Führungs- und Lagezentrum. Wir haben ja keine zentrale Stelle der Einsatzleitung Polizeiseelsorge, das ist nicht wie bei der Notfallseelsorge, die über eine Integrierte Leitstelle informiert wird. Danach kommt die Nachbereitung dieser Einsätze.

Was haben Sie von Ihrem Vorgänger übernommen? Was haben Sie geändert?

Ich habe kein Sekretariat, keine Geschäftsstelle mehr, und mache alles in Eigenregie. Das ging vorher nicht. Mein Vorgänger ist Pfarrer einer sehr großen Seelsorgeeinheit in der Erzdiözese Freiburg mit einem hohen Deputat an Berufsethik. Mein Ziel ist, durch schnelle Vernetzung und kürzere Kommunikationswege, aber auch durch ökumenische Begegnungen mit dem gesamten Kollegium in Baden-Württemberg dazu beizutragen, die gegenseitige Wertschätzung zu steigern, Kompetenzen zu teilen sowie Defizite zu erkennen und zu benennen.

Wie empfinden Sie als Vorsitzender der Landesarbeitsgemeinschaft der Kirchlichen Arbeit in der Polizei in Baden-Württemberg, die Zusammenarbeit zwischen den katholischen und evangelischen Kolleg: innen?

Auf regionaler Ebene leben wir ein tägliches ökumenisches Miteinander in Selbstverständlichkeit der Wertschätzung. Konfession spielt bei unserer Arbeit eine untergeordnete Rolle. Herausfordernd bleibt seit vielen Jahren die sich verändernden Personalstrukturen in den vier Kirchen in Baden-Württemberg. Personalmangel und Personaleinsparungen zwingen uns dazu, die Tätigkeitsfelder auf ein realistisches Maß zu reduzieren, auch wenn der Bedarf vorhanden ist.

Wie sehen Ihre nächsten Montate im Amt aus? Haben Sie neue Projekte und Konzepte?

Nach den beiden Großschadenslagen brauchte ich Zeit, mich zu sortieren. Ich habe vor, mehr Antrittsbesuche bei wichtigen Entscheidungsträgern zu planen und den Austausch und die Begegnung weiter zu fördern und einfordern, also Thema Gastfreundschaft. In den eigenen Reihen stehen Personalveränderungen an. Ich habe die Vision, eine tragfähige Polizeiseelsorge in unseren Arbeitsfeldern entwickeln zu können und dabei verlässlicher Partner der Polizei zu bleiben.

Von der Kirchensteuer finanziert

Die Polizeiseelsorger: innen gehören zu den über 400 Seelsorgenden der Kategorialsseelsorge, die mit Kirchensteuergeldern finanziert werden. Als zusätzliches Budget stehen der Kategorialseelsorge etwa 300.000 Euro pro Jahr zur Verfügung. Bei 100 Euro Kirchensteuer wird etwa ein Euro für die Lebensbegleitung für besondere Situationen und Berufe eingesetzt.

Mehr zur Verteilung der Kirchensteuer im Dossier.

Die Polizeiseelsorger: innen unterstützen die Arbeit der Polizei in Baden-Württemberg. Wir sprachen mit dem Innenministerium:

 

Wie bereiten Sie sich auf Großereignisse und Stadtfeste vor?

Die Polizei Baden-Württemberg setzt in ihrem breiten Maßnahmenkonzept zur Gewährleistung der Sicherheit im öffentlichen Raum landesweit gezielt auf die positive Wirkung offener Präsenz- und Kontrollmaßnahmen. Hierbei binden die regional zuständigen Polizeipräsidien lage- und bedarfsorientiert neben eigenen Beamtinnen und Beamten auch Unterstützungskräfte des Polizeipräsidiums Einsatz mit ein. Aktuelle Ereignisse wie in Solingen und Mannheim oder auch die Entwicklung im Nahen Osten finden sowohl bei der Gefährdungsbewertung als auch bei den konkreten polizeilichen Maßnahmen Berücksichtigung. Gerade der Tod unseres Kollegen Rouven Laur hat uns in tragischer Weise wieder vor Augen geführt, wie gefährlich der Polizeiberuf ist.

Sind Sie auf das Großereignis Cannstatter Wasen gut vorbereitet?

Großereignisse wie der Cannstatter Wasen oder auch die bevorstehende Weihnachtsmarktsaison stehen in einem besonderen Fokus der Sicherheitsbehörden. Grundsätzlich ist zunächst der jeweilige Veranstalter für die sichere und ordnungsgemäße Durchführung der Veranstaltung zuständig. Gleichwohl bereitet sich die Polizei lage- und bedarfsorientiert auf derartige Veranstaltungen professionell vor. Hierzu zählt eine enge Abstimmung mit einer Reihe unterschiedlicher Akteure, die Erarbeitung von Einsatzkonzepten, die Erstellung einer Gefährdungsbewertung gegebenenfalls unter Beteiligung von weiteren Sicherheitsbehörden, die Beratung bei der Erstellung von Sicherheitskonzepten oder auch die beratende Teilnahme an Sicherheitsgesprächen.

Wie bewerten Sie die Zusammenarbeit mit den Polizeiseelsorger: innen vor Ort?

Die Zusammenarbeit ist sehr gut. Die Polizeiseelsorger: innen agieren vor Ort unabhängig, jedoch in enger Absprache mit der Psychosozialen Beratung. Sie sind für alle Polizeibeamt: innen da und bieten unter anderem vertrauliche Gespräche, Zuspruch und Beistand. Sie bieten aber nicht nur Unterstützung nach belastenden Einsätzen, sondern stehen jederzeit auch für persönliche und berufliche Fragen zur Verfügung.

Wie bewerten Sie die Bedeutung von Polizeiseelsorge bei Akutfällen?

Dass Polizeibeamt: innen leider auch in belastende Einsätze oder Situationen geraten können, ist dem Polizeiberuf immanent. Um im Bereich des psychosozialen Betreuungsangebots möglichst optimale Rahmenbedingungen zu bieten, verfügt die Polizei Baden-Württemberg unter anderen über Polizeiseelsorger: innen im Haupt- sowie Nebenamt, die den Polizeidienststellen und Einrichtungen für den Polizeivollzugsdienst zugeordnet sind. Diese stehen nach belastenden Ereignissen als Ansprechpartner allen Polizeibeamt: innen zur Verfügung. Die zeitnahe Unterstützung durch die Polizeiseelsorge, gerade bei „Akutfällen“, stellt einen sehr wichtigen Baustein im psychosozialen Betreuungsangebot dar.

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