Missbrauch und Prävention

Demütig und selbstbewusst für eine Kultur der Achtsamkeit

Stand und Perspektiven bei Prävention und Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs in der Diözese standen im Mittelpunkt einer zweitägigen Tagung in Bad Schussenried. Dr. Monika Stolz, Vorsitzende der Kommission sexueller Missbrauch (KsM), und Andrea Doll (Geschäftsführung), stellten den Auftrag der seit 20 Jahren unabhängig arbeitenden Kommission vor. Foto: drs/Jerabek

Über Herausforderungen an die Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs für Kirche, Politik und Gesellschaft diskutierte ein prominent besetztes Podium.

Wie kann die Politik die vielfältigen Anstrengungen der Kirche im Bereich Prävention und Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs besser begleiten, wo muss sie kontrollieren? Welche Schritte sind noch zu gehen, um den Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen? Welche Erwartungen haben sie an die systemische Aufarbeitung? – Ein Podium mit Astrid Mayer und Karl Haucke, Betroffene von sexualisierter Gewalt, mit Bischof Dr. Gebhard Fürst, dem Bundestagsabgeordneten Prof. Dr. Lars Castellucci und der Kinder- und Jugendpsychiaterin Prof. Dr. Renate Schepker diente dazu, Forderungen zu benennen und Perspektiven auszuloten.

Grenzverletzungen nicht übersehen

Mit dem Appell, die eigene Betroffenheit von sexualisierter Gewalt zu reflektieren – als direkt Betroffener, Mitbetroffener, vielleicht Mitwisserin –, wandte sich Astrid Mayer, Journalistin und Mitgründerin der Betroffeneninitiative kirchlicher Missbrauch Süddeutschland, an die Teilnehmenden der Tagung und die Öffentlichkeit. Der Prozentsatz der Menschen, die damit gar nichts zu tun haben, sei sehr gering und darüber werde sehr wenig gesprochen, sagte Mayer. Ohne eine solche Reflexion könne man Betroffenen „nicht wirklich zur Seite stehen“. Auf der persönlichen Ebene forderte sie eine „konkrete Verbesserung der Situation von Betroffenen“, etwa durch achtsameren Umgang bei den Anlaufstellen, damit sich auch diejenigen Betroffenen zeigen könnten, die sich bisher nicht gemeldet haben. Mayer zeigte sich überzeugt, „dass wir unsere Gesellschaft viel besser machen können, wenn wir aufhören, Grenzverletzungen zu übersehen oder zu entschuldigen, und wenn wir lernen, Macht sichtbar zu machen und mit Macht umzugehen“.

Aufarbeitung gesetzlich verankern

Karl Haucke, Mitglied des Betroffenenrats der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM), forderte ein gesetzlich verankertes Recht auf Aufarbeitung „und im Gegensatz dazu für die Täterorganisation eine Pflicht zur Aufarbeitung“ mit einem Recht auf Akteneinsicht. „Aufarbeitung ist bedeutend, um individuelles Erleben und Handeln sichtbar zu machen“, sagte Haucke. Es gehe darum, „Einzelberichte zu einer größeren Erzählung zusammenzuführen. Der Sinn für uns alle dabei ist, dass dieses Mosaik die Erfahrungen verdichtet und diese damit gesellschaftspolitische Relevanz bekommen.“ Für Betroffene bedeute dies, „sie haben das Erlebte zur Sprache gebracht“.

Prävention, Intervention und Aufarbeitung

Bischof Dr. Gebhard Fürst dankte den Betroffenen für ihre Bereitschaft, „uns zu unterstützen, zu raten, Finger in die Wunden zu legen und dazu beizutragen, dass Missbrauch jetzt und künftig in unserer Kirche keinen Platz hat“. Mit dem Dreiklang aus Prävention, Intervention und Aufarbeitung sind in der Diözese Rottenburg-Stuttgart die derzeit gültigen institutionellen Richtlinien für den Umgang mit sexuellem Missbrauch erfüllt, „die Arbeit ist in vollem Gange“: Seit 20 Jahren gibt es die Kommission für sexuellen Missbrauch, die Bischof Dr. Gebhard Fürst als erster deutscher Bischof gegründet hat; vor zehn Jahren folgte die „Stabsstelle Prävention, Kinder- und Jugendschutz“; vor neun Monaten konstituierte sich ebenfalls auf Diözesanebene eine unabhängige Aufarbeitungskommission und vor kurzem hat auch der Betroffenenbeirat seine Arbeit aufgenommen.

Ein Thema der ganzen Gesellschaft

Alle wüssten, „dass sexualisierte Gewalt ein Thema der ganzen Gesellschaft ist und dass wir eine Kultur des Hinsehens überall brauchen“, sagte Prof. Dr. Lars Castellucci, Beauftragter für Kirchen und Religionsgemeinschaften der SPD-Bundestagsfraktion. Mit Blick auf die Kirche sagte der Abgeordnete, er leide, wie unbeholfen der Umgang stattfinde, glaube aber immer noch, dass die Kirche in der Lage sei, einen Prozess der Aufarbeitung zu gestalten, der dann auch für andere Organisationen beispielhaft sein könne.

Mehr Verbindlichkeit und Tempo

Mit Blick auf Hauckes Forderung nach einer staatlichen Aufsicht in Form einer Kontroll- und Monitoring-Stelle für die Aufarbeitung unterstrich Castellucci das Bestreben der Ampel-Koalition, die bereits geschaffenen Institutionen, also die Aufarbeitungskommission und die Unabhängige Beauftragte, zu stärken. Es gehe darum, die Prozesse der Aufarbeitung nicht nur zu beraten, sondern verbindlich zu machen und auch entsprechende Konsequenzen, etwa in Form von Strafzahlungen, zu definieren. Es gelte, mehr Verbindlichkeit und Tempo in die Aufarbeitung zu bekommen; die Politik habe da eine Mitverantwortung. Castellucci brachte ein „Opfergenesungswerk“ oder eine Stiftung zugunsten der Opfer sexualisierter Gewalt ins Gespräch.

Alle Unterstrukturen in der Kirche sind gefordert

Dass wirkliche Aufarbeitung mit einer wirklichen Änderung der Ethik „auf der Handlungsebene aller Unterstrukturen in der Kirche stattfinden“ müsse, also bei all denen, die mit Kindern oder potenziellen Opfern umgehen, betonte Prof. Dr. Renate Schepker, Kinder- und Jugendpsychiaterin und Mitglied der Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs durch kirchliche Beschäftigte in der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Es müsse eine Kultur einziehen, die von Aufarbeitung profitiert.

Sexualisierte Gewalt „besprechbarer machen"

Die Präventionsbeauftragte der Diözese, Sabine Hesse, würdigte die starke Beteiligung an der Tagung aus verschiedenen Einrichtungen und Ebenen, insbesondere von den Dekanaten, wo sich Präventionskoordinatorinnen und -koordinatoren für diese Thematik einsetzen und die Vernetzung vor Ort fördern. Das Netz der Akteure im Bereich Prävention und Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs werde immer dichter und bunter. Präventionsarbeit helfe dabei, „sexualisierte Gewalt besprechbarer zu machen“, sagte Hesse im Interview. Demütig und selbstbewusst gelte es weiterzugehen, um die vielbeschworene Kultur der Achtsamkeit zu fördern und auf einer mitmenschlichen Ebene mit Betroffenen und Menschen aus deren Umfeld ins Gespräch zu kommen – auch mit dem Ziel zu erinnern und Orte des Gedenkens zu schaffen.

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