Wie erfahren Männer von Ihrer Beratungsstelle?
Hanna Gmähle: Der häufigste Zugangsweg der Männer war durch einen Verweis von Kooperationspartnern der Stuttgarter Beratungslandschaft auf unser Angebot. Zum Beispiel Männerschutzwohnung (Sozialberatung Stuttgart), Zeugen- oder Prozessbegleitung (PräventSozial), Beratungsstelle für Frauen, die sexualisierte Gewalt erlebt haben (Wildwasser), Auseinandersetzung mit eigenen Täteranteilen oder eigenen Tatneigung (Tatprävention, PräventSozial), Traumaambulanz – Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie (Klinikum Esslingen GmbH), Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Diakoniekrankenhaus, Stuttgart
Der zweit häufigste Zugangsweg war eine Online Recherche der Betroffenen, dicht gefolgt von stattgefundener Öffentlichkeitsarbeit. Zudem gab es vereinzelt Überweisungen aus der Diözese oder Kollg:innen von Ruf und Rat.
Mit welchen Anliegen kommen Männer zu Ihnen in die Beratungsstelle?
Mihaela Macan: Es kann um ein Einsortieren des Erlebten gehen. Es kann darum gehen, Worte dafür zu finden oder es zum ersten Mal auszusprechen. Es wollen manchmal die Fragen geklärt werden, wem man davon erzählen will oder wie man weniger daran erinnert wird. Es kann um Stabilisierung gehen und die Entwicklung einer Strategie, mit der Gewalt, die einem widerfahren ist, zu leben. Manchmal gibt es auch den Wunsch nach einer juristischen Beratung. Es geht darum, sich zu informieren, was auf einen zukommt, wenn man eine Anzeige erstattet, oder welche Unterstützung es gibt. An dieser Stelle haben wir „kurze Wege“, da wir eine Volljuristin im Team haben, die ein juristisches Erstgespräch anbieten kann, oder wir können an die Kolleg:innen von PräventSozial verweisen.
Warum zögern manche Männer, sich an Sie zu wenden?
Mihaela Macan: Das Thema sexualisierte Gewalt ist – egal welches Geschlecht betroffen ist – mit Scham verbunden. Es kommt vor, dass betroffene Menschen der Annahme sind, selbst schuld zu sein. In einem traditionellen Männerbild sind Verletzlichkeit oder sich Unterstützung suchen nicht vorgesehen. Zudem gelten Männer in den Köpfen vor allem als Täter an Frauen und Kindern.
Was sind das für Männer, die zu Ihnen in die Beratung kommen?
Mihaela Macan: Es sind ganz normale Männer. Menschen wie „Du und ich“. Der Erfahrung nach kommen Personen zu uns in die Beratungsstelle, die Stärke und Mut entwickelt haben, sich mit dem Unrecht, das ihnen widerfahren ist, auseinanderzusetzen. Es sind Männer, die bisher schon Strategien entwickelt haben, mit dem Erlebten umzugehen. Manchmal wird diese Stärke erst im Beratungsprozess bewusst sichtbar.
„Ich wünsche den Mitarbeitenden in der Beratungsstelle immer ein offenes Ohr und die passenden Worte für alle Betroffenen von sexualisierter Gewalt. Und weiterhin viele kreative Ideen für gemeinsame Projekte mit anderen Institutionen, um dem Thema "Sexualisierte Gewalt gegen Männer" Gehör und Beachtung zu ermöglichen.“ (Weihbischof Matthäus Karrer)
Wo passiert sexualisierte Gewalt?
Mihaela Macan: Die meisten Betroffenen, die zu uns in die Beratungsstelle kommen, erlebten sexualisierte Gewalt im Kontext der Familie. Dabei stammen die Betroffenen aus allen gesellschaftlichen Schichten. Die Täter:innen waren männlichen und weibliches Geschlechts. Es wurde von Grenzverletzungen berichtet, aber auch Fälle aus dem sogenannten „Hardcore-Bereich“ erreichten uns.
Wie sieht so eine Beratung konkret aus?
Johannes Löhbach: Wir stimmen die Beratung individuell auf die Person ab, die diese in Anspruch nehmen möchte. Zu Beginn der Beratung bitten wir die Betroffenen, den Anlass zu beschreiben, warum sie gerade jetzt eine Beratung beginnen möchten. Anschließend werden sie gebeten, ihr konkretes Anliegen zu schildern und zu beschreiben, was der Auftrag an die Beraterin bzw. den Berater ist. Wenn der Auftrag zu dem passt, was wir anbieten können, dann wird gemeinsam vereinbart, worum es in der Beratung gehen soll und auf welche Ziele wir hinarbeiten möchten, und an welchen Themen gearbeitet werden soll. Dabei ist es in den seltensten Fällen hilfreich, dass der Klient detailliert über die Gewalterfahrungen berichtet. Wichtig ist es hingegen, die Klienten im Umgang mit den Reaktionen ihrer Psyche und ihres Körpers auf die Ereignisse zu unterstützen. Dabei geht es in der Beratung häufig um Stabilisierung, um Techniken zur Selbst- und Emotionsregulation, den Umgang mit depressiven oder psychosomatischen Symptomen oder die Bewältigung des Alltags.
Wer trägt die Kosten?
Johannes Löhbach: Unser Beratungsangebot steht jedem offen und soll nicht an der Finanzierung scheitern. Die Diözese Rottenburg-Stuttgart übernimmt den überwiegenden Teil der Gesamtkosten. Das Beratungsangebot wird auch durch eine finanzielle Beteiligung unserer Klient:innen mitgetragen. Dabei ist das erste Gespräch kostenfrei. Ab dem zweiten Gespräch bitten wir um eine freiwillige Kostenbeteiligung. Die Höhe dieser Beteiligung legen die Klient:innen selbst fest. Klient:innen, die keinen Eigenbeitrag leisten können, erhalten kostenlose Beratung.
„Ich möchte Opfer sexualisierter Gewalt ermutigen, als Betroffene professionelle Beratung und Unterstützung in Anspruch zu nehmen. Das ist der erste Schritt zum Verlassen der Opferrolle.“ (Weihbischof Matthäus Karrer)
Was möchten Sie Männern sagen, die Opfer von sexualisierter Gewalt werden?
Mihaela Macan: Dass sie nicht allein sind. Dass es kein Zeichen von Schwäche, sondern ein Zeichen von Stärke ist, sich mit dem Erlebten – in welcher Form auch immer – auseinanderzusetzen. Vielleicht auch, dass es in der Beratung nicht darum geht, dass ein Mensch einem gegenübersitzt und dieser weiß, was mit einem „nicht stimme“ und was er brauche. Wir können nur zusammen schauen, welche Strategien bisher entwickelt wurden, um auf diese unnormale Situation zu reagieren und gemeinsam einen Weg finden, das Erlebte in das Leben zu integrieren – falls es das Anliegen gibt.
Wo möchten Sie in 5 Jahren mit MEnToo stehen? Was sind Ihre Ziele?
Johannes Löhbach: Wir sprechen mit unserem Angebot eine Personengruppe an, die in höchstem Maße mit Tabuisierung, Stigmatisierung und gesellschaftlichen Rollenbildern konfrontiert ist. Es wird noch einige Zeit dauern wird, bis Männer, die sexualisierte Gewalt erlebt haben, sich bei uns melden, nachdem sie von unserem Beratungsangebot erfahren haben. Aktuell sind wir intensiv damit beschäftigt, in Kontakt mit Stuttgarter Hochschulen und Berufsschulen zu treten. Auf diesen Wegen möchten wir unsere Präsenz beispielsweise über Social Media oder Werbebildschirme in Mensen unter Studierenden, Schüler:innen über 18 Jahren und Lehrpersonal deutlich erhöhen
Wann sind Sie erfolgreich?
Mihaela Macan: Das langfristige Ziel ist selbstverständlich, dass es Täter:innen so schwer wie möglich gemacht wird, zu agieren. Sexualisierte Gewalt gegen Männer ist leider Realität. Ein mittelfristiges Ziel ist es, dass das Thema aus dem Dunkelfeld mehr ins Hellfeld rückt, dass es kein Tabu-Thema mehr in der Gesellschaft ist.
Ein Indiz für Erfolg wäre auch, wenn Betroffene davon berichten, dass beim sich Anvertrauen an die Polizei oder im Freundeskreis, es zu keiner Bagatellisierung kommt oder nicht versucht wird, einem das Erlebte abzusprechen. Dass es zu keiner Bewertung kommt und es keinen Unterschied macht, ob man als männliche, diverse oder weibliche Person von sexualisierter Gewalt betroffen ist. Ebenso, dass es ein Bewusstsein dafür gibt, dass es neben Tätern auch Täterinnen gibt.