Geschichte

Stein-gewordene Geschichte(n)

Die Marienburg steht auf einem Hügel in Niederalfingen.

Die Marienburg thront über Niederalfingen in der Nähe von Aalen. Bild: DRS/Annika Werner.

Mehr als 90 Jahre diente die Marienburg in Niederalfingen dem Bund Neudeutschland (ND) als Begegnungsstätte. Für viele bleibt sie ein Sehnsuchtsort.

An den Besuch von Bischof Joannes Baptista Sproll erinnert sich Dr. Norbert Trabold noch sehr gut – obwohl er fast 75 Jahre zurückliegt: Als Jugendlicher war er dabei, als der Rottenburger Oberhirte 1947 auf die Burg Niederalfingen kam, um mit den Teilnehmern eines regionalen ND-Treffens Gottesdienst zu feiern. „Auf einer selbstgebauten Sedia gestatoria haben wir den Bischof in die Burg getragen“, erinnert sich der 92-Jährige. Der Bau des tragbaren Sessels war nicht nur Zeichen der Wertschätzung für den zwei Jahre zuvor aus der Verbannung zurückgekehrten Bekennerbischof, sondern angesichts von Sprolls fortgeschrittener Erkrankung und der engen Zugbrücke auch schlicht notwendig. Es war der Besuch, bei dem Bischof Sproll das Niederalfinger Bollwerk der Muttergottes weihte.

Als Marienburg ist die ursprünglich staufische Anlage hoch über dem Kochertal eng mit der Geschichte des ND in der Region verbunden, vielen ist sie auch als Jugendbildungsstätte und Schullandheim bekannt. In der Erinnerung bleibt die Burg, deren Nutzung der ND im März 2021 aufgeben musste, ein prägender Erlebnisort für Kinder und Jugendliche und ein kleines Kaleidoskop verbandlichen Engagements.

Stichwort: ND – Christsein.heute

Der ND wurde als „Bund Neudeutschland“ 1919, kurz nach dem Ersten Weltkrieg, auf Anregung des Kölner Erzbischofs, Kardinal Felix von Hartmann, als Verband der katholischen Jugendbewegung gegründet. Im Namen „Neudeutschland" sollte zum Ausdruck kommen, dass man an einem neuen, besseren, christlichen Deutschland mitwirken wollte. Der Bund richtete sich an katholische Schüler an Gymnasien und bot eine außerschulische, kirchliche Betreuung unter jesuitischer Führung. Ideen der Jugendbewegung sollten unter katholischen Vorzeichen verwirklicht werden. Nach kontroversen Diskussionen blieb Mädchen die Mitgliedschaft verwehrt; für sie entstand ab 1926 der Bund „Heliand".

In seinem 1923 verabschiedeten Bundesprogramm, dem „Hirschberg-Programm“, fasste der Verband sein Wollen und Streben in dem Leitsatz zusammen: „Neue Lebensgestaltung in Christus“. 1933 hatte der ND rund 21.000 Mitglieder, musste seine Tätigkeit unter den Nationalsozialisten jedoch unterbrechen. Nach dem Zweiten Weltkrieg, auch im Zuge der 68er-Bewegung, erfuhr der ND mehrfach Veränderungen und Umgestaltungen: Unter anderem beschlossen die Schülergemeinschaft im Bund Neudeutschland und der Heliand-Mädchenkreis 1971 ihr Zusammengehen zur Katholischen Studierenden Jugend (KSJ).

Mittlerweile ist der ND, der heute den Namen „ND – Christsein.heute“ führt, ein Netzwerk von rund 4000 Christen, darunter namhafte Publizisten, Politiker, Theologen und Bischöfe. Als Ziel gibt er aus, Glaube, Kirche und Welt zusammenzubringen und zeitgemäße Positionen zu Themen wie Familie, Klimawandel, Neurowissenschaften, Sterbehilfe und Digitalisierung zu formulieren.

Stichwort: Burg Niederalfingen (Marienburg)

Die Burg wurde ursprünglich von den Staufern um 1050 errichtet und um 1570 von den Grafen Fugger zu einem prächtigen Jagdschloss ausgestaltet. Von 1841 bis 1849 diente sie als Steinbruch des Königreiches Württemberg für die Hüttenwerke in Wasserhaltigen. Baron König aus Fachsenfeld setzte sich dann aber für die Beendigung der Abbrucharbeiten ein. Von der mittelalterlichen Anlage haben sich der Graben, Teile der Zwingeranlage, der Bergfried und die Grundmauern einiger Gebäude erhalten.

Wie Norbert Trabold erinnern sich viele Mitglieder des ND und der Katholischen Studierenden Jugend (KSJ), denen die Burg ein Stück Heimat geworden ist, an die eigene Vergangenheit – an die eigene Jugend mit Zeltlagern, Spielen, Schabernack und gemütlichem Beisammensein. Einer davon ist Kurt Weber: Er wurde 1948 mit zwölf Jahren Mitglied und war bei vielen Regionaltreffen, vor allem an Pfingsten und im Sommer, auf der Marienburg dabei. „Manchmal waren wir als kleine Gruppe in den Ferien dort oder an den Wochenenden“, erzählt er. „Es gab Vorträge, aber auch Geländespiele und Sängerwettbewerbe. Wir haben lustige Dinge im Burggraben und im Haus angestellt.“ Als Erwachsener sei er dann mit der ganzen Familie gekommen: „Mit meiner Frau und meinen Kindern bin ich dann zu den Familienwochenenden des Hochschulrings gekommen – besonders für die Kleinen war das natürlich toll.“

„Absoluter Glücksfall"

Auch für andere katholische Verbände wie DJK, Georgspfadfinder (DPSG) und die Junge Aktion der Ackermann-Gemeinde wurde die Marienburg Ziel vieler Treffen. Sogar englische Scouts kamen auf die Burg, vermittelt durch den Gaukuraten Pater Gabriel aus Neresheim. Liebevoll versorgt wurden alle Gäste der Burg über viele Jahre von Lina Ruf, genannt Tante Lina. Die Burgköchin erwies sie sich als „absoluter Glücksfall“, wie sich Erwin Hafner, langjähriger Redakteur des „Pfalzbriefes“, ND-Mitteilungsblatt für die Region Württemberg, erinnert: In den schweren Notzeiten nach dem Zweiten Weltkrieg „fütterte sie mit vielen Großstadt-Jugendlichen auch viele hungrige Burgbesucher aus der Umgebung durch – nicht zuletzt die Georgspfadfinder, die ihren Gau nach der Burg benannt hatten“. Auch Prälat Werner Redies erinnert sich an den „guten Geist“ der Marienburg: „Tante Lina hat Großes geleistet: Trotz des Mangels in der Nachkriegszeit hat sie mit wenig Lebensmitteln viele versorgt“, erinnert sich der frühere Generalvikar der Diözese Rottenburg-Stuttgart.

Apropos: Wie ein „Who is Who" der Diözese liest sich die Liste der Persönlichkeiten, die im ND beheimatet waren oder sind: Kardinal Walter Kasper, Bischof Carl Joseph Leiprecht (1903-1981), Weihbischof Anton Herre (1910-1993), die Generalvikare Eberhard Mühlbacher (1927-2016) und Werner Redies, der Moraltheologe Prof. Eberhard Schockenhoff (1953-2020) und Künstlerpfarrer Sieger Köder (1925-2015).

Einem christlichen Rittertum verbunden

Die Burg Niederalfingen, die der ND 1928 vom Land Württemberg pachtete, war eine von zeitweise bis zu sieben Burgen, die der Verband in verschiedenen Teilen Deutschlands für seine Treffen nutzte. „Der ND bemühte sich um Burgen, da die heranwachsenden Gymnasiasten nicht nur jugendbewegt, sondern sich auch – anders als dem Militär – einem christlichen Rittertum verbunden sahen“, erklärt Klaus Eilhoff, letzter ND-Burgbeauftragter für die Marienburg. Heute ist davon noch die Neuerburg in der Südeifel übrig.

Trotz der heute antiquiert anmutenden Anlehnung an Ideale des mittelalterlichen Rittertums hatten Selbstbestimmung und demokratische Prinzipien im ND von Anfang an einen hohen Stellenwert. „Beim ND wurden die Leiter gewählt“, erklärt Dr. Norbert Trabold, der 1946 Mitbegründer einer ND-Schülergruppe in Heidenheim war. Schon in den Gründungsjahren nach 1919 und dann wieder beim Neubeginn nach dem Krieg vermochte es der ND, „sich vom Einfluss der Bischöfe freizuschwimmen“, so Trabold, der als Neresheimer Benediktinerpater Cyrill Ende der 1950er und in den 60er-Jahren als Regional- und später Diözesankaplan des ND wirkte. Lange vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil habe der ND durch seine Offenheit zu anderen Konfessionen auch einen besonderen ökumenischen Akzent gesetzt.

Kunst auf der Marienburg

Gut erinnern kann sich Trabold, der auch nach seiner Laisierung dem ND verbunden ist, an einen Burgbesuch von Bischof Carl Joseph Leiprecht in den 50er-Jahren: „Sieger Köder, der damals Kunsterzieher in Aalen war, hatte die Burgkapelle ausgemalt und gestaltet; der Bischof sollte die Kapelle weihen. Aber er weigerte sich, das Metallkreuz, das Köder geschaffen hatte, zu weihen“ - weil er es theologisch für nicht vertretbar hielt. „Sieger Köder hat ja schon auch provoziert mit seiner Kunst“, erzählt der 92-Jährige, „aber wir waren empört, dass der Bischof so ängstlich ist“. Freilich sei aus dem eher konservativen Bischof, der Leiprecht einst gewesen sei, später ein glühender Reformer geworden, so Trabold.

Prälat Redies erinnert an einen weiteren Künstler, der eng mit der Marienburg verbunden war: Der Heilbronner Glaskünstler und Maler Raphael Seitz (1957-2015) habe sich schon als Jugendlicher stark eingesetzt; später gehörte er dem Burgkuratorium an. Seitz, der von Benedikt XVI. im Jahr 2010 zum Päpstlichen Glasmaler ernannt wurde, hatte schon als junger Künstler 1986 ein farbiges Fenster im neu gestalteten Meditationsraum des Bergfrieds gestaltet.

„Knapp 100 Jahre Geschichte genügen, um eine Organisation mehrmals zu verändern, neu zu entwerfen, umzugestalten, hin- und her zu verbinden, auszubauen und zu reduzieren, immer auf der Höhe der Zeit“, so formuliert der ND in einer launigen Selbstbeschreibung. Von einschneidenden Veränderungen waren die 1960er-Jahre geprägt, wie Klaus Eilhoff zu berichten weiß: „Ich bin 1952 zum ND gekommen – damals sollte es noch an das christliche Rittertum erinnern. Als Wölflinge haben wir angefangen, nach einer Prüfung wurden wir dann zu Knappen und dann weiter geschult. Als letzte Stufe wurden wir dann zu Rittern geweiht.“ Damit sollte das christliche Rittertum miteinbezogen werden, so Eilhoff. „Mit der Studentenrevolution geriet das aber aus dem Blick.“

Von Gespenstern und anderen Abenteurern

Die Zeiten änderten sich, aber der abenteuerliche Geist der Burg für die Kinder blieb. Hans-Dieter Fas war 1971 Fähnleinführer und erinnert sich an eine Geschichte besonders gut: „Wir sind mal nachts mit einer Gruppe von acht oder neun Leuten ausgebüchst“, schmunzelt er. „Der Hausmeister hat das aber gemerkt und alles verrammelt – als wir also wiederkommen wollten, war die Burg verschlossen.“ Die Jungen hätten sich überlegt, wie sie trotzdem hineingelangen könnten: „Unten im Burggraben gibt es Türen – einer der Jungs hatte einen Dietrich dabei und konnte sie öffnen“, erzählt er weiter. Laut Fas machten sich ein paar der Jungen auf den Weg durch die verwinkelte Burg, während der Rest draußen wartete. Sie kletterten über eine kaputte Treppe, schlüpften durch Löcher und an Gittern vorbei und sprangen sogar durch eine Klappe im Boden in ein dunkles Loch, um dann endlich bei den Schlafsälen anzukommen. Dann holten sie die anderen nach: „Wir haben wunderbar geschlafen“, lacht Fas. „Und der Hausmeister hat sich ganz schön gewundert.“

Dass die Burg prädestiniert ist für allerlei Gespenster-Streiche und -geschichten, weiß Maria Atzmüller, die von 1978 bis 1982 Wirtschafterin auf der Marienburg war. Da blieb es nicht aus, dass eines nachts, als gerade zwei Gruppen gleichzeitig auf der Burg zu Gast waren, plötzlich zwei Gespenster aufeinandertrafen – und wohl ganz schön verdutzt aus der Wäsche geschaut haben. Gut erinnern kann sich Maria Atzmüller auch an einen jungen Lehrer, der eine der ersten Schülergruppen leitete, die sie in ihrer Amtszeit versorgen durfte: Es war der heutige Ministerpräsident Winfried Kretschmann.

Ein Sehnsuchtsort

Ende der 1990er-Jahre bis Anfang der 2000er war Achim Wicker Bildungsreferent der KSJ und gleichzeitig Geschäftsführer der Marienburg. Er hat viele schöne Erinnerungen an die Burg, zum Beispiel an die Arbeitseinsätze: „Einmal haben wir mit den Jugendlichen und einem Künstler im Rittersaal Wappenschilde gemalt – von allen Herrschaften, die jemals auf Burg waren, wie die Staufer“, schwärmt er. „Eine andere Arbeitsaktion war in den kalten Herbstferien 1999 – da haben wir einen Wohnwagen gekauft und ihn ganz toll angemalt.“ Mit dem „BunteKisteMobil“ beziehungsweise „BuKiMobi“ seien sie dann eine Woche lang durch die Diözese gefahren: „Wir haben Stadtgruppen und Schulen besucht – das war wirklich cool.“ Wicker vermisst die Burg: „Sie ist ein Sehnsuchtsort – die Jugendlichen und ich selbst auch haben dort eine super Zeit gehabt. Neue Generationen werden es nicht kennen und es nicht vermissen, aber für mich war es etwas ganz Besonderes.“

An die großen Feste und an coole Veranstaltungen erinnert sich KSJ-Mitglied Veronika Ewald, zum Beispiel an die großen Konferenzen, die drei bis vier Tage dauerten: „Tagsüber haben wir gearbeitet und am Abend dann zusammengesessen. Ich kannte viele gar nicht so gut, aber irgendwie waren wir alle schon Freunde. Es war einfach eine geile Atmosphäre“, sagt die 27-Jährige. Auch die Arbeitseinsätze gefielen ihr sehr: „Einmal haben wir einen Pavillon im Hof gebaut, ein anderes Mal – da waren wir so zwanzig bis 25 Jugendliche – haben wir die Wände der Wendeltreppe bis in den fünften Stock schön angemalt. Das hat richtig Spaß gemacht.“

Veronika Ewald war auch noch im Jahr 2020 mit einer Gruppe auf der Burg, als Corona die Jugendarbeit schon schwieriger machte. Mit der Pandemie kamen dann auch weniger Gäste auf die Burg. Die wirtschaftlicher Perspektive fehlte – und der ND musste seinen Mietvertrag kündigen. Seit April 2021 steht die Marienburg verlassen und verschlossen da. Der ND hofft auf eine adäquate Neunutzung durch das Land Baden-Württemberg.

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