Gedenken

Sterilisiert oder ermordet

Rainer Deschler steht hinter einbem Rednerpult vor Schülerinnen und Schülern. er zeigt auf die Leinwand.

Klinikseelsorger Rainer Deschler erläutert Schülern am Gedenktag der Opfer des Nationalsozialismus ein Einzelschicksal - Archivfoto: Made Höld

Pastoralreferent Rainer Deschler hält die Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus in der damaligen „Heilanstalt“ wach.

691 Frauen und Männer, die als scheinbar geisteskrank in der „Heilanstalt“ Weißenau im Süden Ravensburgs einsaßen, wurden in den Jahren 1940 und 1941 in Grafeneck und Hadamar im Rahmen der „Euthanasie-Aktion“ der Nazis umgebracht. Ein durchschreitbares Beton-Denkmal stellt die grauen Busse dar, die sie abtransportierten. „Es war mir ein großes Anliegen, die Erinnerung an die zwangssterilisierten und ermordeten Menschen zu wecken und zu fördern“, erklärt Rainer Deschler. Der Pastoralreferent ist seit 1989 Seelsorger im ZfP Südwürttemberg, das unter anderem die Gebäude des ehemaligen Prämonstratenserklosters nutzt.

Die Gedenkfeier am 27. Januar wäre seine letzte im aktiven Dienst gewesen. Ende Februar tritt Rainer Deschler in den Ruhestand. In der Zeit vor Corona brachte er als Mitglied einer interdisziplinären Arbeitsgemeinschaft jährlich etwa 150 Schülerinnen und Schülern beim Einführungsvortrag der Veranstaltung das Schicksal der damaligen Opfer nahe und setzte es in Bezug zur Gegenwart. Wer die entwürdigende Einweisung in die Anstalt relativiert und sich auf irreführende Sterbeurkunden beruft, wie es die Mörder nach dem Krieg taten, zerstört die Erinnerung. „Dieser 'damnatio' entgegenzutreten, fühle ich mich wie getrieben“, betont der Theologe.

Glockenschläge und Online-Aufführung zum Gedenken an Nazi-Opfer

691 Glockenschläge am 27. Januar um zwölf Uhr mittags vom Turm der ehemaligen Klosterkirche Weißenau erinnern auch im Coronajahr 2021 an jede und jeden der Deportierten und Ermordeten. Vertreterinnen und Vertreter der Stadt Ravensburg sowie des ZfP, der Initiative Psychiatrieerfahrener, des Werkstattrates sowie des Deutschen Gewerkschaftsbundes legen - dieses Mal ohne Öffentlichkeit - Kränze am Mahnmal der grauen Busse nieder.

Um 17 Uhr ist für alle zugänglich im Internet das Drama „T4. Ophelias Garten“ des italienischen Bühnenautors Pietro Floridia zu sehen. Das Stück handelt von der Freundschaft zweier Frauen im Rahmen und unter den Bedingungen des T4-Mordprogramms, das die Vernichtung von Menschen mit Behinderungen systematisch plante. Das ZfP Südwürttemberg ließ die Inszenierung mit Laiendarstellern in Kooperation mit weiteren ZfP-Mitarbeitenden, dem Verlag Psychiatrie und Geschichte sowie mit zahlreichen Freiwilligen im Hintergrund unter Einhaltung der Abstandsregeln aufzeichnen.

Zur Recherche für seine Vorträge suchte Rainer Deschler in den letzten Jahren immer wieder Archive auf. Dabei stieß er unter anderem auf die Postkarte eines Zwangssterilsierten an den Rottenburger Bischof aus den späten 1940-er Jahren. Dieser beschwerte sich darin, dass die Kirche nicht gegen die milden Urteile des Grafeneck-Prozesses protestiere. Im Blick auf die Menschen, die heute unter psychischen Erkrankungen leiden, sieht Deschler bei der Diözese ebenfalls Handlungsbedarf. „Die Kirche müsste die Psychiatrieseelsorge den Strukturen und der Dynamik des gemeindepsychiatrischen Verbundes anpassen“, fordert der 65-Jährige.

Integration überfordert Kirchengemeinden

Verlassen Menschen mit körperlichen Beschwerden das Krankenhaus, übernimmt im Idealfall die Kirchengemeinde am Wohnort die weitere seelsorgerliche Begleitung. Menschen mit chronischer psychischer Erkrankung leben außerhalb der Klinik meist in gesellschaftlichen Gettos oder unter einer sozialpsychiatrischen Käseglocke. Das jahrzehntelange Bemühen Deschlers sie in die Gemeinden vor Ort zu integrieren war nicht von Erfolg gekrönt. „Hier sind beide Seiten überfordert“, mutmaßt er. Würde sich die Kirche im Bereich psychischer Erkrankungen vom Modell 'Klinikseelsorge' trennen und regional öffnen, bekämen die Menschen in der Klinik, im Wohnheim, im ambulant betreuten Wohnen oder am Arbeitsplatz Unterstützung durch dieselben vertrauten Seelsorgerinnen und Seelsorger.

Gesprächsangebote mit einem Verteter der Kirche zusätzlich zu therapeutischen Sitzungen hält Rainer Deschler für sinnvoll. Denn Seelsorgerinnen und Seelsorger sind vom Klinikbetrieb unabhängig und müssen niemandem etwas melden. „Es gilt für mich im Gespräch – nur mit Ausnahme angekündigter Fremd- oder Eigengefährdung - die Verschwiegenheit“, erklärt der Theologe. Fühlen sich Patientinnen oder Patienten durch ärztliche Entscheidungen oder Maßnahmen der Heimleitung ungerecht behandelt, bitten sie ihn schon einmal, sich für sie einzusetzen. In der Regel wählt er dann ganz unkonventionell den direkten Weg. „Dadurch mache mir aber nicht immer Freunde“, gesteht er mit einem Augenzwinkern.

Musik gegen den Corona-Blues

Die Menschen, die in über 30 Jahren auf Rainer Deschler zukamen oder gelegentlich auch von Mitgliedern des therapeutischen Dienstes vermittelt wurden, haben vorübergehende oder bleibende psychische Einschränkungen. Sie leiden unter Wahnvorstellungen, Persönlichkeitsstörungen, Demenz oder Suchtabhängigkeit. Darunter sind auch Straffällige mit keiner oder verminderter Schuldfähigkeit. „Das sind Menschen wie du und ich, die die Souveränität über ihr Leben, die Stabilität ihrer Persönlichkeit oder die Fähigkeit zu sozialem Miteinander verloren haben“, erklärt der Pastoralreferent. Neben Einzelbegleitung bietet er auch Gruppengespräche, Gottesdienste, Gebete sowie Andachten an und hält Beerdigungen - durch Corona derzeit nur eingeschränkt.

Die durch die Lockdown-Maßnahmen freigewordene Zeit nutzt Rainer Deschler zum Ausmisten. Von den Dingen, die für seine Nachfolgerinnen nicht relevant sind, nimmt er nur wenig mit in seine Wohnung. Ab März hat der Witwer und Vater zweier erwachsener Töchter im Ruhestand noch mehr Zeit, um mit Nachbarins Hündin Spaziergänge zu machen, im Fernsehen Krimis anzuschauen, zu lesen oder im inklusiven Maskentheater „Compagnie Paradox“ mitzuspielen. Und vielleicht überdauert auch sein besonderes Corona-Hobby die Pandemie. 2020 schrieb er rund 30 Schlager, Pop- oder Soulnummern um, nahm sie auf und verschickte sie an Freunde und Bekannte - von A wie „Aber bitte mit Maske“, über „Gottes Pseudo-Ego“ bis Z mit dem „Zug aus Corona“.

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