Da ist der Mann, der an krankhafter Erschöpfung leidet, schon mehrere Suizidversuche unternommen hat und immer wieder bei der Telefonseelsorge anruft. Zuerst weint er nur ins Telefon, bevor er über seine Suizidgedanken sprechen kann. Und da ist die Frau, die in ihrer Verzweiflung davon spricht, sich gemeinsam mit ihrem sechsjährigen Kind vom 12. Stock eines Hochhauses stürzen zu wollen. Die kirchliche Telefonseelsorge hat ihren Ursprung in der Suizidprävention, die bis heute eines der Kernthemen geblieben ist. Sei es am Telefon, im Chat oder per Mail, immer wieder geben Menschen in ihrer Verzweiflung zu erkennen, dass sie nicht weiterleben möchten. Im vergangenen Jahr haben die Haupt- und Ehrenamtlichen der beiden kirchlichen Beratungsstellen 27.269 Gespräche am Telefon geführt, hinzu kamen 853 E-Mails und 2.190 Chats. Bei fast 9 Prozent aller Ratsuchenden lag eine latente oder akute Suizidalität bei sich selbst oder einem nahen Anvertrauen vor.
Es sind zwischen 9.000 und 10.000 Menschen jedes Jahr, die in Deutschland durch Suizid sterben, die aktuellste Zahl, die das Statistische Bundesamt auf seiner Homepage veröffentlicht, sind 10.119 Suizide im Jahr 2022. Die Zahl der Suizidverstorbenen in Deutschland ist höher als die Zahl der Todesfälle durch Verkehrsunfälle, Mord, Totschlag, illegale Drogen und AIDS zusammen. Suizidalität kann in jedem Alter auftreten. Zahlen belegen, dass mit zunehmendem Alter Suizidversuche deutlich öfter tödlich enden und etwa zwei bis dreimal mehr Männer durch Suizid sterben als Frauen.
"Alles erscheint aussichtslos, hoffnungslos, sinnlos"
„Menschen mit Suizidgedanken und Suizidabsichten fühlen sich in einer ausweglosen Situation. Die innere Beweglichkeit, der Gedanken- und Verhaltens-Spielraum, der einen gesunden Menschen auszeichnet, ist verloren gegangen. Alles erscheint aussichtslos, hoffnungslos, sinnlos. Studien gehen davon aus, dass 80 Prozent der Menschen irgendwann in ihrem Leben Suizidgedanken haben“, erklärt Bernd Müller, der stellvertretende Leiter der katholischen Telefonseelsorge Ruf und Rat. Die Ursachen für Suizidgedanken sind vielfältig: krisenhaft zugespitzte Probleme, Beziehungsabbrüche, der Verlust von Autonomie, Kindheitstraumata, unglückliches Verliebtsein, der Verlust eines geliebten Menschen, Migrationserfahrungen. „Krisenmotive können sehr vielfältig sein. Besondere Risiken bestehen, wo eine Depression, eine Suchterkrankung, eine Schizophrenie oder eine posttraumatische Belastungsstörung vorliegen. Manchmal kommt alles zusammen“, sagt der Psychologe und Religionspädagoge Bernd Müller.
Menschen mit Suizidgedanken kann geholfen werden
Dass Menschen mit Suizidgedanken geholfen werden kann, zeigen viele Studien, aber auch die Erfahrungen der haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitenden der Stuttgarter Telefonseelsorgestellen. „Wir wissen aus unserer täglichen praktischen Arbeit mit Betroffenen: über die seelische Not zu sprechen entlastet und nimmt den suizidalen Druck. Suizidprävention ist möglich, ob im Einzelkontakt oder als gesellschaftliche Initiative. Wir werden täglich mehrfach in allen Phasen der Suizidprävention aktiv“, sagt Martina Rudolph-Zeller, die Leiterin der evangelischen TelefonSeelsorge. Zu den Möglichkeiten der Telefonseelsorge gehört es, Wegweiser zu sein und die Menschen auf geeignete professionelle Stellen im Stuttgarter Hilfesystem aufmerksam zu machen. „Um nachhaltig zu wirken und die Tabuisierung suizidalen Verhaltens zu brechen, müssen sich die Einstellungen gegenüber suizidalem Verhalten ändern. Der Wandel der gesellschaftlichen Einstellungen entlastet Suizidgefährdete und ihre Angehörigen, macht es leichter darüber zu sprechen und öffnet Wege für eine bessere Prävention und Versorgung suizidgefährdeter Menschen“, so Martina Rudolph-Zeller.
Suidzid ist verstärkt Thema in der Chat- und der Mailberatung
Die Stuttgarter Zahlen der Telefonseelsorge zeigen, dass Menschen im Chat und per Mail eher bereit sind über Sudizidgedanken zu sprechen. „Der Kontakt per E-Mail und im Chat geht einerseits mit einer höheren Anonymität und Distanz einher. Gerade das erzeugt oft einen gegenteiligen Effekt. Wir nehmen dies vor allem in der E-Mailberatung wahr, wo viel häufiger besonders schambehaftete oder tabuisierte Themen angesprochen werden und wo es inzwischen bei fast jedem zweiten Mailkontakt um Suizidalität geht“, sagt Claudia Pillmann, die stellvertretende Leiterin der evangelischen TelefonSeelsorge. Genutzt werden Chat- und Mailberatung stärker von jüngeren Menschen. „Wichtig ist, dass die Betroffenen nicht allein bleiben und sich in einem sehr geschützten Rahmen öffnen können. Deshalb ist es wichtig, unterschiedliche Zugänge anzubieten“, so Claudia Pillmann.
Ehrenamtliche sind wichtige Säule der Telefonseelsorge
Möglich ist die Rund-um-die-Uhr-Erreichbarkeit nur dank dem Einsatz vieler Ehrenamtlicher: Am Telefon sind es 185 qualifizierte Ehrenamtliche (evangelische TelefonSeelsorge 118 und katholische TelefonSeelsorge 67), von denen ein Teil zusätzlich in der Chatberatung und bei der evangelischen TelefonSeelsorge auch in der E-Mail-Beratung aktiv ist. Einer dieser gut ausgebildeten Seelsorger ist Werner Schmid, der seit fünf Jahren ehrenamtlich bei der evangelischen TelefonSeelsorge mitwirkt. „Meine Motivation ist der Wunsch, dem Leben etwas zurückzugeben, nachdem ich durch Elternhaus, Familie, Freundeskreis, Arbeitgeber und Gesundheit viel Glück und positive Entwicklung erfahren durfte“, erzählt der 67-Jährige. Er hat in vielen Gesprächen erlebt, dass es Menschen hilft, über ihre Suizidgedanken zu sprechen und er hat auch erlebt, dass er helfen kann: „Oftmals gelingt es, den Blick auf das zu richten, was den Anrufenden in ihrer Situation weiterhilft und im Gespräch dann auch erste kleine Lösungsschritte zu finden.“
Sinkende Kirchensteuermittel wirken sich langfristig aus
Eine weitere Säule der Telefonseelsorge sind stabile Finanzen. Beide Telefonseelsorgen werden auch durch Kirchensteuermittel finanziert. Durch den anhaltenden Mitgliederschwund der beiden Kirchen allerdings sinkt langfristig auch die Kirchensteuerkraft. Deshalb plädiert Martina Rudolph-Zeller dafür, die beiden Beratungsstellen zukunftssicher aufzustellen: „Wir benötigen einen stabilen institutionellen Rahmen für die Bereitstellung der 24-Stunden-Telefonbesetzung und für die Qualitätssicherung. Die finanzielle Sicherung ist eine dringliche gesellschaftliche Aufgabe.“ Bernd Müller von Ruf und Rat ergänzt: „Zugleich bedanken wir uns bei den vielen, vielen Menschen, die mit ihrer Kirchensteuer auch unsere Arbeit mittragen und mitfinanzieren. Vielen Dank dafür.“