Friedensglocken

„Unrechte Geschichte zum Guten wenden“

Bischof Dr. Gebhard Fürst (Diözese Rottenburg-Stuttgart), Bischof Jacek Jezierski (Bistum Elbląg, Polen) und Bischof Martin David (Bistum Ostrau-Troppau, Tschechien) starten das Projekt Friedensglocken (von links). Bild: Diözese Rottenburg-Stuttgart / Thomas Brandl

Bischof Fürst hat zusammen mit den Bischöfen Jezierski aus Polen und David aus Tschechien das Projekt „Friedensglocken für Europa“ gestartet.

Die beiden osteuropäischen Bischöfe kommen wegen Glocken aus Kirchen in der Diözese Rottenburg-Stuttgart, die einst in Gotteshäusern in den ehemaligen „deutschen Ostgebieten“ hingen und dort von den Nationalsozialisten entwendet wurden. Sie sollten der Kriegsmaschinerie dienen. Nur ein Fünftel dieser Glocken entging der Zerstörung und wurde nach dem Zweiten Weltkrieg in westdeutschen Kirchen aufgehängt. 67 Glocken kamen nach Württemberg. In der Kirche „Maria Hilfe der Christen“ in Aichtal-Grötzingen hing bislang eine Glocke aus dem polnischen Frombork und eine aus Píštʼ in Tschechien. Dass sich Glocken aus beiden Ländern in einer Kirche befinden, ist ein Unikum in der Diözese und daher wurde der Ort als Startpunkt für das Friedensprojekt gewählt, zu dem neben den Bischöfen auch weitere Vertreterinnen und Vertreter aus den beiden Ländern angereist waren. In einem feierlichen Gottesdienst wurden die historischen Glocken und ihre neu gegossenen Schwestern zu Friedensglocken geweiht.

Eine unrechte Geschichte soll sich zum Guten wenden

Ausgangspunkt für das Projekt war die Erneuerung des Geläuts des Rottenburger Doms St. Martin vor rund zehn Jahren. Damals wurde festgestellt, dass eine der Glocken aus dem heutigen Polen stammt. „Die Rottenburger Domglocke aus Gorzów Śląski ist der Vernichtung entgangen. Aber statt nach dem Krieg in ihre Heimatkirche zurückzukehren kam sie zu uns“, berichtete Bischof Fürst. „Schon 2011 wollte ich diese unrechte Geschichte unbedingt zum Guten wenden, zumal schnell klar, war, dass wir noch einige weitere Kirchenglocken aus dem heutigen Polen und Tschechien im Bistum haben.“

 

Ich konnte erfahren, dass die leidvolle und ungerechte Geschichte dieser Glocke sie letztlich zu einem Symbol für Hoffnung, Völkerverständigung und Frieden gemacht hat. 
Bischof Dr. Gebhard Fürst

Der Bischof bot der Heimatgemeinde an, die Glocke zurückzubringen und bei einem feierlichen Gottesdienst zu übergeben. Damit stieß er auf eine sehr positive Resonanz: „Vor Ort habe ich erfahren, was für eine große, emotional tiefgehende Bedeutung dieser festliche Akt für die Menschen hat. Wir Fremden aus Rottenburg wurden als deutsche Glaubensgeschwister und Freunde empfangen. Ich konnte erfahren, dass die leidvolle und ungerechte Geschichte dieser Glocke sie letztlich zu einem Symbol für Hoffnung, Völkerverständigung und Frieden gemacht hat." Aus dieser Erfahrung entstand das Projekt „Friedensglocken für Europa“.

Auch der polnische Bischof Jezierski unterstrich die symbolische Dimension der Rückgabe und würdigt die Geste: „Ich begrüße die Bemühungen und den Plan von Bischof Fürst mit Respekt. Die Rückgabe der Glocken an ihre Herkunftsgemeinde wird von der örtlichen Gemeinschaft positiv aufgenommen werden.“ Ebenso groß ist die Freude in Tschechien, wie Bischof Martin berichtete: „Glocken werden nie für nur eine Generation beschaffen. Die Friedensglocken, die tausende Kilometer bewältigt haben und für mehr als 70 Jahre die Kirchen verlassen haben, für die sie hergestellt wurden, werden mit ihrer Stimme weitere Generationen auf die Notwendigkeit der immerwährenden Bemühung um Frieden in den Beziehungen zwischen den Menschen und Völkern erinnern.“

Ein bislang einzigartiges katholisches Friedensprojekt

Die tragische, aber auch hoffnungsvolle Geschichte der Glocken aus dem Osten ist 76 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs häufig in Vergessenheit geraten. Dabei haben die Nationalsozialisten insgesamt mehr als 100.000 Glocken beschlagnahmt, wie Projektleiter Dr. Hans Schnieders von der Diözese Rottenburg-Stuttgart erläutert: „Das Ausmaß der Glockenvernichtung ist kaum vorstellbar. Allein aus unserer Diözese sind in den Kriegsjahren 2.799 Kirchenglocken zerstört worden.“ Bei Kriegsende blieben bundesweit auf Sammellagern gerade noch etwa 16.000 Glocken erhalten, teils mit erheblichen Schäden. Die meisten wurden in den Folgejahren an ihre Heimatgemeinden zurückgegeben. Nur für rund 1.300 Glocken aus den ehemals deutschen Ostgebieten, die auf dem so genannten „Glockenfriedhof“ im Hamburger Hafen lagerten, lehnte die britische Militär-Regierung eine Freigabe ab. Sie wurden ab 1950 Kirchengemeinden im damaligen Westdeutschland zugewiesen. Schnieders hat sich auf Spurensuche dieser Glocken in der Diözese begeben und Hinweise zu deren Entstehung beispielsweise auf Inschriften entdeckt: „Sie enthalten oft Ortsnamen, Patrozinien, Stifter- oder Gießernamen, Gussorte und Gussjahre und lassen so meist sehr enge Bezüge zu den Gemeinden erkennen, für die sie ursprünglich gegossen worden sind.“

Friedensglocken stehen für Versöhnung und Begegnung

„Wenn eine Glocke in ihre ‚alte Heimat‘ zurückkehrt wird bei uns an ihrer Stelle eine neue gegossen“, erläuterte Bischof Fürst. „Die alte und die neue Glocke erhalten einen Segen, der um Frieden bittet: Wir bezeichnen sie dann als Friedensglocken, weil sie Symbole für die christliche Überzeugung der Geschwisterlichkeit aller Menschen sind und für den christlichen Glauben stehen, für den Frieden immer zuerst ein Geschenk Gottes ist.“ Die Glocken seien nun der Anlass für Begegnung und Versöhnung. „Das Projekt ‚Friedensglocken für Europa‘ ist ganz und gar kirchlich, aber mit einer großen Offenheit, einem weiten Horizont und mit dem Ziel, einen Beitrag für das menschliche Miteinander zu leisten“, so der Bischof weiter. Bei den Katholikinnen und Katholiken in der Diözese Rottenburg-Stuttgart sei das Projekt auf eine breite Zustimmung und Unterstützung gestoßen. Schließlich würden die Glocken selbst die Lokalgeschichte einer Gemeinde mit den großen historischen Vorgängen verbinden und somit würden die Kirchenglocken als Kultur- und Glaubensgut erfahrbar.

Broschüre fasst Hintergründe und Ziele zusammen

Insgesamt ist für das Projekt ein Zeitraum von sechs Jahren vorgesehen. Rund 400.000 Euro an Kosten plant die Diözese Rottenburg-Stuttgart jährlich für dessen Umsetzung ein. Eine Broschüre informiert in drei Sprachen (Deutsch, Polnisch, Tschechisch) umfassend über Hintergründe und Ziele der „Friedensglocken für Europa“. Die Publikation kann per E-Mail an afkm-glocken(at)bo.drs.de beim Projektteam des Amts für Kirchenmusik bestellt werden.

Livestream Gottesdienst am 24. September um 16 Uhr

Der Gottesdienst mit den drei Bischöfen, bei dem die Friedensglocken geweiht werden, wird am 24. September 2021 um 16 Uhr live übertragen.

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