Versagen und Hoffnung vor Gott tragen

Gebet zum Gedenktag für Opfer sexuellen Missbrauchs – Interview mit der Präventionsbeauftragten der Diözese

Papst Franziskus hat einen jährlichen Gebetstag für Opfer sexuellen Missbrauchs angeregt. Für Deutschland haben die Bischöfe festgelegt, dass dieser von den Kirchengemeinden rund um den 18. November begangen werden soll, dem "Europäischen Tag zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch". Sabine Hesse, Präventionsbeauftragte der Diözese Rottenburg-Stuttgart, hat für die Deutsche Bischofskonferenz (DBK) zu diesem Gedenktag ein Gebet formuliert. Im Interview erläutert sie Hintergründe zur Entstehung des Gebets und drückt aus, welche Hoffnung sie damit verbindet. 
Frau Hesse, Sie haben ein Gebet geschrieben, das die Bischofskonferenz (DBK) nun zum Gebetstag für Opfer sexuellen Missbrauchs am 18. November bundesweit zur Verwendung in den Gottesdiensten empfiehlt. Was hat Sie bei der Formulierung dieses Textes bewegt? 
Sabine Hesse: Als Theologin ist es mir wichtig, die Erfahrungen und Gefühle, die mit sexuellem Missbrauch - nicht nur in der Kirche - verbunden sind, auch in religiöse Sprache zu bringen. Präventionsarbeit und auch Aufarbeitung spielen sich oft nur im pädagogischen oder juristischen Bereich ab. Das ist gut und wichtig, aber in der Kirche doch nicht alles. Wir haben bisher in unserem kirchlichen "Kerngeschäft" noch keine eigene Sprache für den Umgang mit sexuellem Missbrauch gefunden. Meinen ersten Entwurf für die DBK habe ich mit verschiedenen Fachleuten und auch mit Betroffenen diskutiert. So ist schließlich dieser Text entstanden. 
Weshalb haben Sie für Ihren Text die Form des Gebets gewählt? 
Hesse: Das Gebet ist für mich eine Möglichkeit, mit der eigenen Ohnmacht und den eigenen Grenzen umzugehen, und sie dann mit Gott an der Seite zu überschreiten und zu einer besseren Zukunft zu kommen. Das offene und konkrete Eingestehen von Fehlern und Grenzen, um dann vorwärts zu gehen, wünsche ich mir auch von den Verantwortlichen in der Kirche in der aktuellen Situation. Diese Haltung kann im Übrigen auch für Täter wichtig sein, die ihre Schuld bereuen und Verantwortung dafür übernehmen wollen. 
In den letzten Wochen waren von Kirchenvertretern Schuldeingeständnisse und Betroffenheitsbekundungen zu hören. Was kann das Gebet bei den Gottesdienstbesuchern bewirken? 
Hesse: Wir müssen damit rechnen, dass in jeder Versammlung von mehr als vier Christinnen und Christen ein Opfer von sexueller Gewalt anwesend ist. Aber deren Erfahrung kommt in unserer Liturgie bisher nicht vor, obwohl wir doch eigentlich alles vor Gott hintragen können. Betroffene fühlen sich oft durch den Täter von der Welt isoliert, so dass die Thematisierung ihres Schicksals auch im Gottesdienst ihnen neue Zugehörigkeit vermitteln könnte. Ein wichtiger Satz für die Prävention ist: Wer das Schweigen bricht, bricht die Macht der Täter. Den anderen vermittelt das Gebet, dass sexueller Missbrauch Menschen oft für ihr ganzes Leben negativ prägt oder dass viele etwas ahnen, aber keine Verantwortung übernehmen. Ebenso wird auch deutlich, dass Hoffnung besteht, wo man sich von den Geschichten der Opfer berühren lässt - auch von ihrer Stärke - und wo man für den Kinderschutz arbeitet. 
"Wir klagen, wir bekennen, wir wollen hören, sprechen, hoffen", heißt es im Gebet. Darf es die Kirche dabei belassen? 
Hesse: Nein, natürlich ist das Gebet kein Ersatz für Handeln, sondern soll dem Handeln Kraft geben. Die Kirche muss ihre Bemühungen um Prävention fortsetzen und verstärken. Sie muss intensiver und öffentlicher als bisher aufarbeiten und auch hierüber viel mehr sprechen, vor allem mit den Betroffenen und mit Kirchengemeinden, in denen sexueller Missbrauch begangen wurde. Und sie muss ihre Strukturen so verändern, dass sexueller Missbrauch und Machtmissbrauch in ihrem Verantwortungsbereich möglichst erschwert wird. Das Positive dabei ist für mich, dass in der Kirche so zunehmend "Landeplätze" für Missbrauchsopfer aus allen gesellschaftlichen Bereichen entstehen könnten für Menschen, die dringend Ansprechpersonen und Hilfe brauchen. Dadurch käme die Kirche ihrer Berufung näher, nämlich die Zuwendung Gottes zu den Schwächsten der Gesellschaft zu verwirklichen.

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