Kirchenkunst

Von Tätern und Gleichgültigen

Bildhauerin Michaela A. Fischer betrachtet eine der drei Relieftafeln, die vor der Kirche Maria Hilf in Grötzingen stehen. Bild: Diözese Rottenburg-Stuttgart, Nelly Swiebocki-Kisling

Der neue Kreuzweg von Michaela A. Fischer in Maria Hilf ist ein Glaubensbekenntnis und ein aktuelles Dokument für mehr Zivilcourage.

Die "via crucis dei" aus 14 Rohbronze-Relieftafeln erzählt den nachgebildeten Leidensweg Jesu Christi auf der Via Dolorosa in Jerusalem. Die ersten drei der 14 Tafeln stehen auf Stelen vor der Kirche, elf weitere hängen im Kircheninneren. Die 15. Relieftafel stellt die Auferstehung dar und unterscheidet sich von allen anderen.

Der Betrachter als Mittäter

In der ersten Station vor der Kirche wird Jesus zum Tode verurteilt. Die Rückenposition der Figuren mit den verschränkten Armen hinter dem Rücken zieht den Betrachtenden in die Szene – wie alle anderen Figuren, sieht auch dieser tatenlos auf die Verurteilung Jesu Christi und wird dadurch zum Mitverurteilenden, sogar zum Mitverantwortlichen für das Leid Jesu.

Als Mensch einsam unter den Menschen

Der Kreuzweg der Künstlerin Michaela A. Fischer thematisiert die Einsamkeit der Menschen unter den Menschen. Auf jeder Station ist Jesus zu sehen, auf seinem schmerzhaften Weg in den Tod. Er ist nicht allein. Um ihn herum sind andere Figuren, mal deutlich, mal angedeutet, mal als Hauch im Hintergrund. Sie stehen reduziert und figurativ um den Leidenden herum. Die Figuren sind ein Synonym für den Menschen an sich. Jesus ist inmitten dieser Menschen – und doch ist er völlig auf sich alleine gestellt. Die anderen wenden sich ab, sehen tatenlos zu, nirgends sieht man Gesichter. Sie zeigen auf ihn, den Todeskandidaten, und ergötzen sich an seinem Leid. Michaela A. Fischer erklärt: „Die Einsamkeit der Menschen unter den Menschen – das finde ich ganz besonders bedrückend heutzutage. Ich frage mich: Wie wäre es heute?“ Sie beantwortet ihre Frage selbst: „Es wäre genauso! Die einen sind die aktiven Täter, die anderen schauen weg. Deshalb ist der Kreuzweg für mich auch ein zeitgenössisches Dokument.“ Ihr Kreuzweg zeige eine Parallele zur Ungerechtigkeit, die auch heute in der Welt passiert. Dem Mangel an Zivilcourage allerorten.

Ein Mensch stirbt und alle sehen zu

Die zweite Tafel zeigt, wie Jesus das symbolisch durch einen einzelnen Balken reduziert dargestellte Kreuz auf sich nimmt. In der Menschenmenge zeigt eine Figur mit dem Finger auf den Verurteilten, verspottet ihn, ist wieder nur tatenlose Zeugin und Täterin zugleich der Grausamkeit, die gerade passiert. Die dritte Tafel außerhalb des Kircheninnenraums zeigt den ersten Fall. Jesus kniet noch aufrecht. Beim zweiten Fall auf der siebten Tafel wird er bereits gebrochen auf dem Boden sitzen. Michaela A. Fischer arbeitet fragmentarisch, legt den Fokus auf die Kantigkeit der Tafeln und spielt mit perspektivischen Verkürzungen, wie beim Relief des sterbenden Körpers in der neunten Station, als Jesus zum dritten Mal unter dem Kreuz zusammenbricht und hilflos unter dem Kreuz liegt. Ein Mensch stirbt und alle sehen zu. Von Fall zu Fall drückt die Künstlerin das Leid Jesu zunehmend schmerzvoller aus.

Spürbarer Schmerz

Auf dem ersten Relief im Inneren der Kirche - es ist die vierte Station - trifft Jesus seine Mutter. Sie kann das Leid ihres Kindes nicht lindern, der Schmerz der mütterlichen Figur ist spürbar. Die Nähe und Liebe seiner Mutter gibt Jesus dennoch die Kraft und den Mut, den schweren Weg weiterzugehen. Als verzweifelten Hilfeschrei schlechthin stellt die Bildhauerin auch die fünfte Station dar, auf der Simon von Zyrene Jesus hilft, sein schweres Kreuz zu tragen. Um sie herum wieder die gesichtslose, gleichgültige Menschenmenge als angedeuteter Hauch. Der Figur Jesu hinterlegt ist das Fenster nach draußen, zum Betrachter hin. Es öffnet sich zunehmend von Station zu Station und steigert so die Dramatik der Leidensgeschichte. Die heilige Veronika reicht Jesus das Schweißtuch, Jesus fällt zum zweiten Mal, er ermahnt die Frauen von Jerusalem, fällt wieder. Jesu Kraft ist endgültig zu Ende. Er könnte nun liegenbleiben und auf den Tod warten. Aber Jesus will das Werk vollenden, das sein himmlischer Vater für ihn vorgesehen hat. Am Ende wird er ans Kreuz genagelt und stirbt. Als der Leichnam Jesu in das Grab gelegt wird, hat sich das Fenster geöffnet und der Betrachter steht sehenden Auges vor dem Leichnam.
 

Ich dränge mich nicht auf, ich biete an

Das Format der Relieftafeln ist mit dem Format 35cm x 35cm von der Künstlerin bewusst klein gewählt. Sie sagt: „Die Entscheidung, Jesus auf dem Kreuzweg zu begleiten, die Entscheidung zum Glauben, ist etwas, was jeder selbst entscheiden muss. Ich dränge mich nicht auf. Ich biete an. Jeder darf sich seinen eigenen Weg selbst aussuchen. Ich muss es ja auch tun.“ Die matte, weiße Haut über den Reliefs sind die Rückstände von Schamott, einer Mischung aus Ziegel und Gips, die Fischer nicht wegpoliert hat. Nur die Gußkanäle hat sie ausgeflext. „Die Gußnähte, mein Dialog mit dem Material. Ich lasse sie stehen,“ wie sie selbst sagt. Das unterscheide sie auch von anderen Künstler:innen. „Ich arbeite mit dem Erhalt der Gußhaut. Ich versuche meine Kunst in das Raumgefüge zu integrieren. Die Holztöne der Rohbronze-Reliefs finden sich in dieser Kirche wieder und haben eine archaische Wirkung, die mir sehr gefällt und mich berührt.“

Die Auferstehung in Gold

Eine einzige Ausnahme ist die letzte Tafel, die Auferstehung in Gold, die das Licht reflektiert und den Betrachter in eine hoffnungsvolle Zeit nach dem Tod begleitet. Fischer klärt auf: „Es ist ein Glaubensdokument, eine Situation, die sich, anders als der Kreuzweg, nur dem Gläubigen völlig erschließt. Die Tafeln haben klare Konturen – diese nicht, sie bleibt im Nebulösen, sie ist aber, anders als der Kreuzweg, anpoliert, um den Goldton herauszuarbeiten.“ Die Treppe in der Tafel erhebt sich sichtbar über die Sorgen und Nöte der Menschen. Kann nur eine Christ:in einen Kreuzweg realisieren? „Diese Frage ist schwer zu beantworten,“ antwortet Fischer. „Letztendlich ist der Glaube der letzte Funke, der rüberkommt und den Betrachter erreichen kann. Das letzte Moment, das den Betrachter erreicht geht nur über die Schiene „Ich glaube!“ Dieser bewusst gewählte Weg zum Kreuz ist eben ein anderer als der eines Menschen, der einfach nur verurteilt wurde. Das ist der Unterschied. Einer, der sich willentlich auf den Weg einlässt und diesen nicht passiv, sondern aktiv wählt.“
 

Es ist wichtig, Stellung zu beziehen

Michaela A. Fischer erklärt die Botschaft des Kreuzwegs an die Gemeinde: „Es ist auch ein Dokument für die Zivilcourage. Es ist heute wichtiger denn je, sich nicht zu verstecken, auch nicht hinter der Verurteilung, sondern sich zu positionieren, Stellung zu beziehen und dafür einzustehen!“

Über die Künstlerin Michaela A. Fischer

Michaela A. Fischer, geboren 1953 in Alpirsbach absolvierte zunächst eine Ausbildung zur Holzbildhauerin, die sie als Bundessiegerin abschloss. Nach ihrem Kunststudium u.a. an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart, mehrjährigen Auslandsaufenthalten und Aufbaustudiengängen ist sie seit 1990 als freischaffende Künstlerin tätig. Die ehemalige Vorsitzende des Bundes der freischaffenden Bildhauer Baden-Württemberg e.V. ist Mitglied der Kunstkommission für sakrale Kunst der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Ihre Arbeiten wurden bereits mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. 2023 übernahm sie die Vertretung des Landes Baden-Württemberg bei der Europäischen Union in Brüssel. In Baden-Württemberg realisierte sie über 40 Auftragsarbeiten im öffentlichen und sakralen Bereich. Die Zusammenarbeit mit der Diözese begann in den 90er Jahren mit der neu errichteten Kapelle im Seniorenheim in Rottenburg. Bis heute hat Fischer bereits etwa 15 Chorraumsanierungen und zahlreiche Werke für die Diözese realisiert. Michaela A. Fischer ist mit knapp 50 Arbeiten in der Öffentlichkeit vertreten. Im Oktober 2023 war die Künstlerin zuletzt mit ihren Arbeiten in der Landesvertretung Baden- Württemberg.

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