Das Virus wegbeten, geht nicht, sagt der Stuttgarter Stadtdekan Christian Hermes. Was Kirche aber tun kann, ist ganz praktisch zu helfen. Was sie nicht tun sollte, ist naive und abergläubische Vorstellungen zu verbreiten. Im Interview erklärt der Stadtdekan, wo angesichts der Corona-Krise die schwierigen Seiten von Religion sind, wie man dennoch auf gute Weise Ostern feiern kann und warum die katholischen Kirchen auch weiterhin als Orte des Gebets offen bleiben müssen.
Welche Rolle hat Kirche in einer gesellschaftlichen Krise wie wir sie im Moment erleben?
In einer solchen Situation spüren alle, wie verletzlich und wie verwundbar wir sind, unser Leib, unsere Familien und Beziehungen, unsere Gesellschaft und Wirtschaft, unsere ganze Existenz. Kirche und Religion können die Corona-Pandemie nicht beenden oder wegbeten, aber sie können und müssen jetzt da sein: ganz praktisch helfen, aber auch durch Seelsorge und Gebet stabilisieren. Sie müssen Angst und Unsicherheit, Schmerz und Trauer tragen helfen und das Denken, Fühlen und Handeln auf Vertrauen, Mitmenschlichkeit, Solidarität ausrichten.
Was kann Religion leisten?
Eine religiöse Bindung kann Halt und Vertrauen geben und die Seele stärken und widerstandsfähiger machen. Psychologen sprechen von „Resilienz“. Als Christen wissen wir, dass wir, egal was geschieht, in Gott gehalten und geborgen sind, und dass er uns da besonders nahe ist, wo das Leben zum Verzweifeln ist. Wenn wir jetzt Tod und Auferstehung Jesu Christi feiern, an Ostern, aber ja an jedem Sonntag, bekennen wir uns nicht zum Glauben an Wachstum und Wohlstand, sondern an die bedingungslose Liebe, die uns in Jesus Christus bis in den Abgrund des Todes begleitet.
Religion hat in diesen Zeiten auch problematische Seiten. Es gibt Menschen, die glauben, im Weihwasser kann kein Coronavirus sein, weil es ja gesegnet sei. Wie reagieren Sie auf derlei Vorstellungen?
Das ist leider zu schön, um wahr zu sein. Im Gegenteil, das sind sogar sehr gefährliche Vorstellungen. Nein, da müssen wir vernünftig sein und naiven oder abergläubischen Vorstellungen klar entgegentreten. Es gibt die Sphäre der Natur und der Naturgesetze, und bei der Bekämpfung einer gefährlichen Pandemie hat nicht die Religion, sondern haben Virologen, Mediziner und andere Fachleute das letzte Wort. Wie Viren sich ausbreiten und wie man sie bekämpft, ist keine religiöse Frage. Religion „hilft“ auf einer anderen, geistigen und geistlichen Ebene.
Was bedeutet es für die Stuttgarter Kirche, dass keine öffentlichen Gottesdienste mehr stattfinden dürfen?
Zunächst muss man sagen: Es ist sehr ärgerlich, dass öffentlich immer wieder kolportiert wird und sogar nach wie vor auf einer Website der Landesregierung steht, Gottesdienste als solche seien verboten. Richtig ist, dass öffentliche Gottesdienste, Versammlungen, die Feier in Gemeinschaft zurecht streng eingeschränkt sind. Wie für alle Religionsgemeinschaften ist das auch für uns sehr schmerzlich. Gerade jetzt spüren wir, wie wichtig es ist, in einer Gemeinschaft und im gemeinsamen Gebet und Gottesdienst Halt zu finden. Wir versuchen, auf medialem Weg zumindest etwas von dieser gottesdienstlichen Gemeinschaft zu erhalten und auf anderen Wegen, über Internet und Telefon, mit den Menschen in Kontakt zu sein. Gottesdienst ist aber immer auch das Gebet in der Familie, das Tagzeitengebet, das persönliche Gebet. Das ist nicht verboten, und das kann auch aus Gründen des Infektionsschutzes nicht verboten werden.
Wie fühlt es sich an, so einsam Gottesdienst zu feiern?
Nicht gut, aber besser, als gar nicht Gottesdienst zu feiern. Es geht auch nicht um meine Befindlichkeit, sondern einfach darum, dass die Feier des Gottesdienstes, insbesondere der Heiligen Messe, zum Kern meines priesterlichen Amtes und Dienstes gehört. Gott braucht keinen „Gottesdienst“, aber wir brauchen ihn. Die „Liturgie“ ist vom Wort her „Dienst für das Volk“. Wir bekommen viele Rückmeldungen auf die gestreamten Gottesdienste, aber auch auf die Videoimpulse. Viele wollen nicht irgendeinen Fernsehgottesdienst sehen, sondern ihre vertraute Kirche und ihre Seelsorgerinnen und Seelsorger.
Die Kirchen sind offen, das ist vielen Menschen gar nicht mehr klar. Warum müssen die Kirchen weiterhin offen bleiben?
Kirchen sind unter Beachtung der Regeln, wie sie auch sonst gelten, zugänglich. Es ist für uns als Katholiken selbstverständlich, dass unsere Kirchen offen sind, dass man für ein persönliches, individuelles Gebet eine Kirche aufsuchen kann, wenn man gesund ist und Abstand hält. Natürlich kann man überall beten, aber bitte: Der Mensch lebt nicht nur vom Brot allein. Man muss aufpassen, dass man nicht genau die Institutionen und Kräfte in der Gesellschaft noch schwächt, die zur seelischen und auch sozialen Stabilität beitragen.
Wie bleiben die Gemeinden mit den Menschen in Kontakt?
Ich bin außerordentlich dankbar, mit welcher Energie und Kreativität unsere pastoralen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und die Ehrenamtlichen in den Kirchengemeinden neue Wege entwickeln: Von Flugblattaktionen und Hilfsangeboten für Senioren, handgeschriebenen Briefen und Karten über Telefonaktionen und Telefonketten, Andachten als Telefonkonferenzen, bis zu Einkaufsdiensten, Materialien für den Gottesdienst zuhause oder die Katechese, Videoimpulsen und Internet-Gottesdiensten.
Gehen Priester und Seelsorgerinnen noch ans Sterbebett von Menschen?
Ja, natürlich und immer unter Beachtung der Sicherheitsregeln. Es gibt ein verfassungsmäßiges Recht auf Seelsorge zum Beispiel im Krankenhaus, und im Infektionsschutzgesetz ist sogar verankert, dass selbst unter Quarantäne ein Seelsorger zugelassen werden muss, wenn ein Kranker dies wünscht. Natürlich muss man vernünftig sein, und, wie gesagt, gibt es heute auch Telefon oder andere Mittel des Kontakts. Wenn zum Beispiel die Sterbesakramente erbeten werden und wenn es irgend geht, werden wir da sein.
Wie können die Menschen in diesem Jahr auf eine gute Weise Ostern feiern?
Abgesehen von der Möglichkeit, über Internet oder Fernsehen an Gottesdiensten teilzuhaben, werden wir gerade schmerzlich, aber vielleicht auch heilsam an die Anfänge unserer Kirche erinnert. Da heißt es in der Apostelgeschichte (Apg 2,46): „Sie brachen in ihren Häusern das Brot und hielten miteinander Mahl in Freude und Einfalt des Herzens." Da gab es noch keine großen Kirchen, die Kirche war einfach zuhause. Und die sich da trafen, konnten auf das Wort Jesu vertrauen: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.“ (Mt 18,20)