Am 27. März 2022 kommen sie in Rottenburg an. Ihrem neuen „Zuhause“. Wegen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine verlassen Natalia Polischcuk gemeinsam mit ihren beiden Söhnen Lev und Max, ihrer Mutter Olena und ihrer Cousine Halina Leshchenko und deren Tochter Anastasia ihre Heimat in der Ukraine. In Rottenburg finden sie dank der Diözese Rottenburg-Stuttgart eine Unterkunft. Natalias Mann muss wegen der Mobilmachung in der Ukraine bleiben. Zu Beginn des Krieges haben sie gehofft, dass der Krieg nach einer Woche oder zwei Wochen endet. Nach einem Monat haben sie schließlich beschlossen, dass sie ihre Heimat in Winnyzja und Odessa verlassen müssen, um ihre Kinder zu schützen.
Wir leben jeden Tag im Krieg
Sorge um Familie und Freunde
Mittlerweile sind zwei Jahre seit Kriegsbeginn vergangen. Natalia sitzt mit Halina und ihrer Tochter Anastasia im Wohnzimmer auf einer beigen Ledercouch. Über ihnen hängen zwei Ukraine-Flaggen. Drei Monate lang hat auch Halinas Schwester mit ihnen in dem Haus in Rottenburg gewohnt. „Sie hat einen guten Job in Kiew und will ihn nicht verlieren, deshalb ist sie nach Kiew zurück“, sagt Halina. Mit Familie und Freunden aus der Ukraine haben sie täglich Kontakt. „Jeden Morgen schauen wir zuerst auf unser Handy. Wir haben eine Gruppe und erst wenn alle „Guten Morgen“ schreiben, sind wir erleichtert“, sagt Natalia.
Morgens trinken die Cousinen gemeinsam Kaffee und lesen Nachrichten – auch wenn es schwerfällt. „Wir müssen wissen, was passiert. Es ist unser Land. Es sind unsere Familien“, erklären die Ukrainerinnen. Jeden Tag haben sie Angst, dass jemandem etwas passiert, den sie lieben.
Ihren Mann hat Natalia seit Kriegsbeginn zweimal in der Ukraine besucht. Ohne die Kinder. Es sei zu gefährlich. Wann sie ihn wiedersehen kann, weiß sie nicht, denn eine Reise in die Ukraine und wieder zurück nach Deutschland ist sehr teuer. Vor dem Krieg hat die 38-Jährige in Winnyzja als Eventplanerin für Kinderpartys gearbeitet. Der Krieg hat vieles verändert: „Die Lebensmittel sind sehr teuer geworden. Es fliegen viele Raketen, aber die Menschen dort haben keine Angst mehr, weil schon so viele Menschen gestorben sind.“ Bei ihrem letzten Besuch im Sommer bringt Natalia die Hauskatze Ramses mit nach Deutschland. Ein kleines Stück von zu Hause.
Ihr Herz ist in der Ukraine
Hier in Deutschland ist die Familie in Sicherheit. Sie sind sehr dankbar und froh, so herzlich aufgenommen worden zu sein. Nach über zwei Jahren in Deutschland hat sich eine neue Normalität eingestellt. Die Kinder gehen zur Schule, Natalia und Halina besuchen fünfmal die Woche einen Deutschkurs, um bald arbeiten zu können. Obwohl sie neue Freunde gefunden und sich hier wohl fühlen ist und bleibt ihr Herz in der Ukraine. „Alle, die hier sind, möchten nach dem Krieg wieder zurück. Wir lieben unsere Heimat. Wir haben Freunde, die aus Mariupol kommen. Aktuell hat ihr Zuhause keine Türen oder Fenster mehr. Aber sie sagen, sobald der Krieg endet, fahren sie den nächsten Tag zurück nach Hause“, erzählt Natalia. Ihre Cousine Halina erzählt von ihrem Leben vor dem 24. Februar 2022.
Das erste Jahr in Deutschland war sehr schwierig für die Familie. Sie haben zwar einen Deutschkurs besucht, aber ansonsten nicht viel unternommen. „Wir waren zu Hause, haben ständig Nachrichten gelesen, viel geweint und darauf gewartet, dass der Krieg endet“, sagt Natalia. Ein Jahr vergeht und die Familie beginnt langsam wieder zu leben. Sie gehen in der Stadt spazieren, machen Ausflüge nach Ulm oder Stuttgart und feiern zum ersten Mal Fastnacht. Laut Halina funktioniert das Zusammenleben der beiden Familien sehr gut. Jeder übernimmt verschiedene Aufgaben im Haushalt. Natalia stimmt zu: „Wir besuchen gemeinsam schöne Orte und unternehmen viel, aber wenn ich abends nach Hause komme, bin ich wieder traurig. Ich möchte in meinem Land leben.“
Heute ist der zweite Jahrestag des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine. Seit 731 Tage kämpfen die Ukrainer:innen für ihr Land. Natalia nimmt ihr Handy in die Hand, öffnet Instagram und zeigt das erste Video. „Jeden Tag: Krieg. Krieg. Krieg“, sagt die Ukrainierin. „Wir leben im Krieg. Egal wo. Ob in Deutschland, der Ukraine, Finnland oder Polen. Wir leben im Krieg. Jeden Tag“. Die Ukraine muss gewinnen – das glaubt sie nicht, sondern das weiß sie. Sie tippt mit einer Übersetzungsapp einen Satz auf Ukrainisch ein und hält das Telefon hoch, dort steht. „Das Gute wird über das Böse triumphieren.“