Kirchenentwicklung

Wir schreiben uns Seelsorge auf die Fahne

Lesung mit Cordt Winkler, Autor des Buches: „ICH ist manchmal ein anderer – Mein Leben mit Schizophrenie“. Bild: Sarah Harst/DRS

Der Mental-Health-Awareness-Day am vergangenen Samstag trug erfolgreich zur Enttabuisierung psychischer Erkrankungen bei.

Die Menschen, die zur Veranstaltung in die ArtFactory im Neckarquartier-Areal in Wendligen gekommen sind, sind völlig normal. Es sind Menschen, wie Du und ich, Jugendliche, junge Erwachsene, Erwachsene in jedem Alter. Betroffene, Angehörige und Menschen, die sich beruflich mit dem Thema Seelengesundheit beschäftigen.

Fast jeder Dritte erkrankt psychisch

Fast jeder Dritte erkrankt im Zeitraum eines Jahres an einer psychischen Erkrankung. Für die knapp 18 Millionen Betroffenen in Deutschland und ihre Angehörigen ist dies mit massivem Leid verbunden. Die Zahl verdeutlicht die Wichtigkeit des Themas: Es sind nicht immer die anderen. Es sind auch wir. Oder unsere Angehörigen, Kolleg:innen und Freund:innen, die betroffen sind.

Auch beten und reden tut manchen in der Seele gut

Andreas Ruiner, Pastoralreferent im Dekanat Ostalb ist neben Dani Wunder, Peter Lendrates und Sarah Harst von der Diözese Rottenburg-Stuttgart für das Programm verantwortlich. Er ist glücklich über die über 80 Teilnehmenden, die sich für den Tag angemeldet haben und erklärt, was die Veranstaltung mit Kirche zu tun hat: „Als Theologen haben wir ganz eng mit der Seele zu tun und schreiben uns Seelsorge auf die Fahne. Da passt es nicht, wenn wir mit seelischen oder psychischen Erkrankungen nichts zu tun haben wollen. Wir müssen uns dessen bewusst sein, dass wir uns bei der schlechten medizinischen Versorgung im Bereich der psychisch erkrankten Menschen, der Betroffenen annehmen, ihren Sorgen und Krankheiten eine Plattform geben und präsent sein müssen. Auch beten und reden tut manchen in der Seele gut – da können wir Seelsorger:innen den Menschen etwas Gutes tun.“ Ruiner erklärt, dass im Wort Psychiater aus dem Griechischen die Worte Psyche (Seele) und Iatros (Arzt) stecken und zieht eine Parallele zur Kirche: „Unsere Aufgabe ist die Seel-Sorge. Das ist davon nicht weit weg. Und Papst Franziskus sagt auch, wir müssen an die Ränder gehen.“

Ein Programm, so vielseitig wie die Besucher:innen

Ebenso vielseitig wie die Besucher:innen ist das Programm - Vorträge oder Workshops - das über den Nachmittag in der großen Halle angeboten wird: „Entspannungsmöglichkeiten“, „Yoga“, „Schlaf/Schlafhygiene“, „Pilgern“, „Depression“, „Suizidprävention“, „Einführung in psychiatrische Krankheitsbilder“, „Sozialpsychiatrie und ambulante Versorgung bei psychischen Erkrankungen“ - nur um einige der über zwanzig Angebote zu nennen, die das Netzwerk wirdwas.fyi – Glaubenskommunikation mit Jungen Erwachsenen der Diözese Rottenburg Stuttgart organisiert hat.

Peter Lendretes ist Geistlicher Leiter der Kolpingjugend sowie Familienbildungsreferent und Notfallseelsorger. Er erklärt, wie das Programm entstanden ist: „Wir wollten etwas Informatives und Präventives für Junge Erwachsene machen und haben im Frühjahr einen Aufruf gestartet, auf den sich Caritas, Psychiater, Selbsthilfegruppen, Arbeitskreise sowie Achtsamkeitslehrerinnen gemeldet haben.“ So entstand das Netzwerk und ein gemeinsames, vielseitiges Programm – finanziert von der Diözese Rottenburg-Stuttgart.

Alles darf, nichts muss

Julia Albers, Pastoralreferentin im Dekanat Esslingen/ Nürtlingen, bietet den „Journaling Workshop – Seh ich auch mich?“ an. Die Methode des Journaling ermöglich es den Teilnehmer:innen, mit sich selbst in Kontakt zu bleiben und sich, ohne zu urteilen, selbst zu akzeptieren. Dazu lassen sie ihre Gedanken fließen und schreiben alles auf, was ihnen in den Sinn kommt. Albers erklärt: „Bei diesem freien Schreiben geht es nicht um den perfekten Text. Es ist eine Methode, Gefühle, die unter der Oberfläche lauern, zuzulassen und zu beschreiben, um mit sich selbst und auch mit Gott in Kontakt zu bleiben. Und aus der Erfahrung Kraft zu schöpfen. Alles darf, nichts muss.“

Körper, Geist und Seele gut in Balance

Präventiv wirken auch Achtsamkeitsyoga, Progressive Muskelentspannung und guter Schlaf. Anna Riedl ist Yogalehrerin und verrät, dass Achtsamkeit nicht nur eine Basis des Buddhismus ist, sondern auch des Christentums, um Körper, Geist und Seele in Einklang zu bringen.

Suizid – 60.000 Trauernde kommen jeder Jahr neu hinzu

Neben den Programmpunkten können sich die die Besucher:innen auf dem Markt der Möglichkeiten an Infoständen von Vereinen, Selbsthilfegruppen und Institutionen informieren. Am Stand der AGUS – Angehörige um Suizid e.V. für Menschen, die einen nahestehenden Angehörigen durch Suizid verloren haben, bieten Gruppenleiter Bärbel Frohnmaier, Johanna Schöffend und Jochen Wagner Informationen zu ihren Selbsthilfegruppen, Wochenendseminaren sowie ihrem Internetforum. Alle Drei verloren ihre Kinder durch Selbsttötung. Johanna Schöffend erläutert die neueste Statistik: „Jedes Jahr auf´s Neue nehmen sich über 10.000 Menschen das Leben. Man liest nirgends, was den Angehörigen hilft. Aber um sie muss man sich kümmern.“ Bärbel Frohnmaier ergänzt: „Um jeden dieser 10.000 Toten trauern jeweils rund sechs andere Menschen. Das sind im Jahr also 60.000 Menschen, die vom Thema Suizid betroffen sind. Und das ist keine starre Zahl, denn nach einem Jahr ist die Trauer nicht zu Ende. Diese 60.000 Trauernden kommen jedes Jahr neu hinzu. Da sieht man, wie viele Menschen mit dem Thema belastet sind.“ Diese Menschen müssten zu Wort kommen, sagt Jochen Wagner: „Was in den Gruppen hilft ist, dass wir Gruppenleiter selbst betroffen sind und sich die Teilnehmenden verstanden fühlen.“ Er lobt die Veranstaltung der Diözese: „Schön, dass sich die Kirche dieses wichtigen Themas annimmt.“

Heilungsprozess aus dem Alltag

Bei einer Kunstausstellung zum Thema „Abbild der Seele“ sind die jungen Künstler:innen Tobias Brunner, Jennifer Weiland und Paul Scharpfenecker anwesend und erzählen über ihre Kunst. Paul Scharpfenecker malt emotionsstarke, expressive Bilder. Er beschreibt, wie Kunst helfen kann: „Der Schaffensprozess ist eine Art Eskapismus, ein Heilungsprozess aus dem Alltag.“ In Jennifer Weilands Bildern zeigt sich bei aller Schwere auch eine Perspektive, die auf einen hellen Punkt gerichtet ist: „Die Bilder entstehen in schwierigen Zeiten, sie zeigen, wie ich mich im Moment fühle. Sie zeigen aber auch, wie wichtig der Weg ist. In unserer Familie war es ein langer Weg. Ich habe nie so viel Liebe gespürt, wie im Moment.“ Tobias Brunner bestätigt die Wirkung von Kunst: “Kunst kann Wunden heilen und anderen zeigen, dass es ihnen auch helfen kann.“

ICH bin manchmal ein anderer

Später am Abend findet ein letzter Höhepunkt statt - eine Lesung mit Cordt Winkler, Autor des Buches: „ICH ist manchmal ein anderer – Mein Leben mit Schizophrenie“. Wahnvorstellungen, Panikanfälle, unkontrolliertes Verhalten: Winkler erfährt mit Anfang 20, dass er an paranoider Schizophrenie leidet. Wie er mit der psychischen Erkrankung lebt und klarkommt, darüber hat er ein Buch geschrieben, das er am Abend vorstellt. Mit Ernst und Humor. Weil Cordt Winkler ein Mensch ist, wie Du und ich.

Resümee

Sarah Harst vom Dekanat Heilbronn-Neckarsulm zieht ein Resümee: "Mentale Gesundheit ud Krankheit sind Themen, die Seelsorger in ihrer täglichen Arbeit begleiten. Ich glaube, wir haben als Kirche den Auftrag, für die Menschen da zu sein. Die Veranstaltung war erfolgreich, weil sie sehr präsent war und weil sie eine weitere Seite von Kirche zeigt."

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