Die Faszination des Pilgerns

Der Weg vermag zu verändern

Der langjährige Pilgerführer Wolfgang Schneller berichtet über Wirkung und Wirklichkeit des Pilgerns

Der heilige Jakobus – sein Gedenktag ist der 25. Juli – ist Patron der Pilger. Vor allem im Sommer machen sich viele Menschen auf den Weg, mit ihren Sorgen und Sehnsüchten, auf der Suche nach sich selbst, nach Gott. Verschiedene Pilgerwege führen auch durch Württemberg, durch die Diözese Rottenburg-Stuttgart: Pilgern beginnt vor der eigenen Haustür. Aber was macht die Faszination des Pilgerns eigentlich aus? Was "passiert" unterwegs? Im Interview gibt der langjährige Pilgerführer Wolfgang Schneller Einblicke in seinen Erfahrungsschatz und spricht über die "Poesie" des Pilgerweges.

Von Pavel Jerabek

Herr Schneller, seit 40 Jahren sind Sie als Pilger und als Pilgerführer auf dem Jakobsweg unterwegs. Wann sind Sie am Ziel?

(lacht) Das Ziel haben wir natürlich erreicht und trotzdem ist es jedes Mal, wenn wir unterwegs sind, eine neue Erfahrung. Das liegt auch daran, dass wir anderen Menschen diesen Weg erschließen können mit all den Schönheiten, aber auch mit allem Schwierigem, das man am Weg erlebt. Das Ankommen ist immer verbunden mit dem Erwartet werden. Wir laufen nicht auf ein Ziel zu, das wir nur zu besichtigen hätten, sondern wir laufen dort in die offenen Arme Gottes. Der Apostel, der uns am Ziel des Jakobsweges, am Pórtico der Kathedrale von Santiago begrüßt und in Empfang nimmt, verweist uns auf Christus.

Was ist bei diesem Ankommen denn anders als wenn ich in der Heimat eine Kirche betrete?

Es muss nicht grundsätzlich anders sein. Wenn wir in unserer Pfarrkirche Eucharistie feiern, ist es das gleiche Mysterium, das gleiche Geheimnis. Doch bei der Pilgerschaft hat man eben diesen Weg mit zu bewältigen, der zum Ziel führt und der einiges an Erfahrungen und Eindrücken zu schenken vermag, wenn man offen dafür ist. Das Ziel ist die Erfahrung: Es ist mir geschenkt worden, ich werde hier erwartet, ich bin jetzt angekommen, ich darf hier auch meinen Glauben erneuern oder vertiefen, um dann auch auf dem Weg nach Hause und zuhause davon Zeugnis zu geben, dass unser Weg ein Ziel hat. Nicht der Weg ist das Ziel. Das Ziel ist Santiago und letztlich die Vereinigung mit Gott.

Im Gegensatz zum allgemeinen Trend in Fragen des Glaubens und der Kirche steht das Pilgern hoch im Kurs. Was macht die Faszination des Pilgerns aus?

Vielleicht ist es einfach die Tatsache, dass Menschen spüren: Hier bin ich als ganzer Mensch gefragt, und zwar so wie ich in meinem Wesenskern bin. Meine Stellung in der Welt, meine Bildung, mein Einfluss, mein Reichtum spielen keine Rolle, sondern nur mein Menschsein ist hier gefragt. Wenn ich mich auf den Weg mache, vor allem, wenn ich den Weg zu Fuß mache, ist der ganze Mensch mit Leib und Seele, mit Haut und Haaren hineingenommen in dieses Unterwegssein – jeden Tag neu, bis ich das Ziel erreicht habe. Ich glaube, dass dieses Ganzheitliche die Menschen so fasziniert. Das haben mir Pilger immer wieder bestätigt.

Was passiert da unterwegs?

Viele Pilger berichten, dass sie unterwegs gemerkt haben, dass sich Fragen oder Probleme, auch die Erschütterungen, die sie im Glauben durchgemacht haben, verflüchtigen. Dass sie jeden Tag mehr die Erfahrung machen: Ich bin nicht allein auf dem Weg; da ist einer, der geht mit. Man kann das gar nicht genau beschreiben, aber es gibt eine Wirklichkeit, die mir plötzlich die Augen öffnet. Viele, die als Tourist oder als Sportler aufgebrochen sind, sind als Pilger angekommen, weil sie unterwegs Menschen begegnet sind, die sie erstaunt und auch berührt haben mit ihrem Glauben und mit ihrer Motivation, mit der sie auf dem Weg waren. Der Weg vermag zu verändern; vielleicht nicht alle, doch sehr viele und viele auf sehr überraschende Weise. Das haben wir in der Pilgerseelsorge oft erlebt bis hin, dass in Santiago Erwachsenentaufen möglich geworden sind.

Was ist für Sie die wichtigste Erfahrung der Pilgerschaft?

Etwas vom Grundsätzlichsten, was ich mitgenommen habe für mein Leben – und ich weiß von vielen, denen es genauso geht –, ist die Tatsache: Ich kann jeden Tag neu anfangen. Vor vielen Jahren hat uns einmal Roger Schutz, der erste Prior von Taizé, gesagt: Merkt euch, wenn ihr von Taizé weggeht: Ihr könnt jeden Tag von einem Neubeginn zum nächsten gehen. Das ist die Wirklichkeit des Pilgerns. Jeder Tag wird bestimmt von dem Rhythmus: morgens aufstehen – Rucksack packen – losgehen, Schritt für Schritt – die Tagesstrecke so gut wie möglich gestalten – am Abend ankommen und ruhen, dankbar zurückschauen auf den Tag. Und am nächsten Tag wieder das Gleiche. Das ist ein Rhythmus, der zu einer Lebenshaltung wird.

Aber wie kann ich diesen Rhythmus im Alltag leben?

Wenn ich das mal übersetze auf die Arbeit in der Gemeinde: Da kommt’s schon auch darauf an, dass man nicht von gestern lebt oder von vorgestern und sagt: Das haben wir immer schon so gemacht. Sondern dass man immer wieder sich zusammensetzt und fragt: Was will Gott heute von mir? Welche Schritte müssen wir vielleicht anders setzen? Wo ist ein neuer Aufbruch nötig? Wichtig ist, nicht stehen zu bleiben, sondern wach und neugierig zu sein.

Sie haben die Wiederentdeckung des Jakobswegs, eines Urtyps des Pilgerweges, mit geprägt. Was halten Sie eigentlich davon, dass Ihnen nun andere, neue Pilgerwege „Konkurrenz“ machen?

Das ist keine Konkurrenz. Der Martinusweg ist ja zum Beispiel ein Weg mit Stationen, die jede für sich ein Ziel sein kann. Der Martinusweg kann gerade für uns, die wir einer Martinus geweihten Diözese angehören, zu einem „Impuls-Weg“ werden, der vielerlei Akzente zu setzen vermag im Sinne von gelebter Solidarität, Nächstenliebe, Offenheit für die eigene Berufung, Offenheit für die Armen – ganz gleich, ob wir an materiell Arme oder an seelische Armut denken. Martinus kann uns beim Pilgern auf unseren Martinuswegen Herz und Sinne öffnen für die Nachfolge Christi.

Es ist dem Menschen grundsätzlich mitgegeben, dass er geht, sich in Bewegung setzt; dass er nicht in seiner Bequemlichkeit sitzen bleibt, sondern dass er sich aufmacht. Pestalozzi hat einmal gesagt: Vieles ginge besser, wenn man mehr ginge. Das Gehen, das Aufbrechen ist dem Menschen eigen und man tut gut daran, wenn man diesem Bedürfnis nachgibt – egal auf welchem Weg und auf welche Weise.

Sie haben Ihre Pilgererfahrungen auch in Gedichten festgehalten. Wie kommt das?

Das hat sich von Jugend an entwickelt und ich war selbst überrascht davon, dass diese Veranlagung da ist. Ich habe immer großen Respekt vor der Sprache gehabt. Die ganze Tradition der Lyrik, der Schriftsteller und das, was wir als kulturellen Schatz hegen und pflegen, das war mir immer sehr wichtig. Die Sprache ist uns auch als Instrument gegeben, um in den Dialog mit der Schöpfung zu treten. Mir ist auch vieles aus den Psalmen wichtig geworden, wo sich die Psalmisten sehr poetisch ausdrücken. Ich denke an Psalm 18: Du führst mich hinaus ins Weite, du machst meine Finsternis hell. Oder auch Psalm 23 oder 27… Der Herr ist mein Licht und mein Heil. Auch in diesen Worten kommt etwas zum Ausdruck, wo der Mensch sich abhebt von der irdischen Schwerfälligkeit. Sprache kann uns entheben von der Erdenschwere, die uns oft Schwierigkeiten macht. Dichtung will uns erheben, den Geist in andere Dimensionen entführen und verführen, wo dann dem Menschen auf einmal ein Licht aufgeht und er sagt: So habe ich das noch nie gesehen.

Zur Person

Wolfgang Maximilian Schneller, aufgewachsen in Wangen im Allgäu, gelernter Industriekaufmann, war bis zu seinem Ruhestand 2006 Bildungsreferent für Spirituelle Dienste im Bistum Rottenburg-Stuttgart und Leiter der Geistlichen Bildungsstätte Cursillo-Haus St. Jakobus in Oberdischingen. Von 1978 an begleitete er zusammen mit seiner im April 2021 verstorbenen Frau Angela Pilgergruppen auf dem Jakobsweg nach Santiago de Compostela. Beide sind Mitinitiatoren der Deutschen Pilgerseelsorge in Santiago. 2013 Verdienstmedaille „Benemerenti“ von Papst Benedikt XVI.

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Der Reiseführer

 

Unsere Reihe: Poesie am Pilgerweg

Pilgern öffnet die Sinne für ein neues, tieferes Sehen, Hören, Fühlen, Wahrnehmen. Und immer wieder gelangt man an Orte und Stellen, die in der Seele etwas zum Klingen bringen, die zur "Poesie" werden: ein Jakobusbrunnen, eine Martinskirche, vielleicht auch ein schlichtes Wegkreuz. Pilgerführer Wolfgang Schneller schreibt seit vielen Jahren Gedichte über das Pilgern und über den Jakobsweg und hat mehrere Bücher veröffentlicht, jüngst den Band "Der Weg umarmt mich wieder … Poesie auf dem Jakobsweg – Inspirationen für Pilger", erschienen im Kunstverlag Josef Fink, Lindenberg i. Allgäu. In kurzen Videoclips - "Poesie am Pilgerweg" -, die wir in loser Folge zeigen, lädt er Sie an ausgewählten Orten in unserer Diözese ein, Gedichte als Weggefährten zu erfahren - und selbst immer wieder neu aufzubrechen.

Kirchen in der eKKLESIA-App

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10 Jahre Martinusweg