Ulmer Nikolauskapelle: Führung im ältesten Sakralbau
Die Nikolauskapelle, der älteste erhaltene Sakralbau Ulms, ist ein mystischer Ort. Die gotische Erweiterung der romanischen Kapelle durch Weitung des Chors und Einbau eines Birnstabrippengewölbes stellt einen geschichtlichen und auch glaubensmäßigen Übergang dar, der Analogien zu heute aufweist. Erstmals 1222 urkundlich erwähnt, trug die spätere profane Nutzung zum Überleben der Kapelle bei: Aufbewahrung von Schmiede- und Lindenkohlen sowie Wäschehenke im Obergeschoss, Sand- und Kalkstadel, Backhaus, Wagenremise und Schmiede. Die Profanität moderner Kultur setzt uns der Gefahr aus, Gott zu verlieren. Zugleich lehrt die Geschichte der Kapelle, dass es uns das Profane womöglich erlaubt, Gott in größerer Tiefe und Weite wiederzufinden.
Friedrich Nietzsche schreibt über die „vollständige Form“, über das stimmige, gewissermaßen vollkommene Bauwerk: „Wir sind gewöhnt, bei allem Vollkommenen die Frage nach dem Werden zu unterlassen, sondern uns des Gegenwärtigen zu freuen, wie als ob es auf einen Zauberschlag aus dem Boden aufgestiegen sei, als ob eines Morgens ein Gott spielend aus solchen ungeheuren Lasten sein Wohnhaus gebaut habe.“ Solch ein Gefühl der Plötzlichkeit und Vollständigkeit kann die Nikolauskapelle wahrhaft erzeugen. Vollständig ist sie in der Komplementarität der Stile Romanik und Gotik. Diese Stile symbolisieren wiederum zwei sich ergänzende Seelenzustände: Geborgenheit und Erhabenheit. Die Kapelle ist vollkommen eingefügt in ein wunderschönes Ensemble von Gebäuden in einer der malerischsten Ecken Ulms. Glaube und Welt berühren sich: oben im Gebäude Verwaltung, unten Gebet. Und ein Bau wird dann erst ganz, wenn ein Pilger vor der Tür steht. Jene Skulptur erinnert an jene Jerusalemwallfahrer, die auf ihrem Weg durch Ulm viele Kapellen anliefen.
„Die Kunst ist ein Unendliches, jedes Kunstwerk ein Bruchstück, trotzdem es als ein Vollständiges erscheint“, sagt Konrad Fiedler. Einen anderen Aspekt benennt Werner Bergengruen: „Untergänge lassen sich nicht ungeschehen machen, Untergänge wollen anerkannt sein. Sie dulden keinen Wiederaufbau, sondern sie verlangen ein vollständiges Neuerschaffen.“ Wie können diese sich widersprechenden Sichtweisen zusammenkommen und sich vervollständigen? Wie das ineinsbringen? Bei der Nikolauskapelle hat es funktioniert. Aus den Bruchstücken nach dem Zweiten Weltkrieg ist ein Neues, Ganzes aufgebaut worden. Eugène Emmanuel Viollet-le-Duc (1814-79) hatte diese Aufgabe bei der Restauration der ungleich größeren Basilika der heiligen Magdalena zu Vézelay in Burgund zu leisten. Er zog diesen Schluss: „Ein Bauwerk zu restaurieren, heißt nicht, es wiederherzustellen, es zu reparieren oder zu unterhalten, sondern es in einen vollständigen Zustand zurückversetzen, der möglicherweise nie zuvor existiert haben mag.“
Führung: Dr. Wolfgang Steffel, Dekanatsreferent
Ohne Anmeldung. Eintritt frei.
Informationen erhalten Sie über Tel. 0731-9206010, dekanat.eu@drs.de