Liebe Schwestern und Brüder!
Am Beginn der österlichen Bußzeit grüße ich Sie sehr herzlich! Ich wünsche Ihnen eine gesegnete Zeit, in der wir erneut zur Quelle unserer Berufung als Christen finden können: zu Jesus Christus, dem auferstandenen Herrn der Kirche.
Im vergangenen Jahr habe ich die Berufung, die jeder und jede von uns durch Taufe und Firmung erhalten hat, in den Mittelpunkt meines Briefes an Sie gestellt: Wir alle sind Berufene! Für das Leben in unserer Kirche ist es so wichtig, dass alle bereit sind, ihrer Berufung nachzuspüren, um ihre von Gott empfangenen Gaben und Begabungen für sich und andere Menschen fruchtbar zu machen. So wächst Kirche als Gemeinschaft der Glaubenden, als Zeichen der Hoffnung, als Licht der Welt! Gott braucht Menschen, die aufzubrechen bereit sind, Menschen, die aus den christlichen Wurzeln ihrer Lebensgestaltung keinen Hehl machen, Menschen, die andere an den eigenen Quellen teilnehmen lassen. Menschen, die ihre Berufung leben und als Begeisterte auch begeistern können. Wozu Seelsorge dienen soll, das muss zuerst in uns selbst als auf Christus Getaufte geschehen.
Aber keiner kann seine Berufung im Alleingang finden. Damit wir auf diesem Weg nicht allein bleiben, schenkt der Geist Gottes seiner Kirche eigene Berufungen. Ihre Aufgabe ist es vor allem, der Berufung der anderen zu dienen. Rund 1500 Männer und Frauen sind heute in einem hauptamtlichen pastoralen Dienst in unserer Diözese tätig: Priester und Diakone sowie Männer und Frauen als Pastoralreferenten oder Gemeindereferentinnen.
Ihnen allen danke ich von Herzen für ihren Dienst! Sie fördern andere, machen ihnen Mut und unterstützen deren Arbeit durch fachkundige Hilfestellung. Sie öffnen den Glauben der Kirche für die Menschen: durch Verkündigung und Glaubenserschließung, durch Mitgestaltung der Liturgie, durch geistliche und seelsorgerliche Gespräche.
Der Dienst an den Berufenen und ihren Berufungen ist in besonderer Weise der gemeinsame Auftrag aller, die hauptamtlich in einem pastoralen Dienst stehen. Er ist so vielgestaltig wie die Berufungen selbst: Um den Dienst an den Menschen in hilfreicher Weise tun zu können, brauchen wir unterschiedliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Es gibt -Gott sei Dank!- viele, die auf verschiedensten pastoralen Feldern mit Begeisterung und Einsatz ihren Dienst erfüllen und so anderen Menschen helfen, ihre Berufung wahrzunehmen: Ich denke an die zahlreichen Ordensleute und Diakone in unserer Diözese, aber auch an die vielen Menschen, die in diakonisch-karitativen Einrichtungen in Pflege und Sorge für ihre Mitmenschen heilsam tätig sind. Die Vielfalt der Dienste und Ämter, die sich seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil entwickelt hat, ist Reichtum und Kraft für die Zukunft unserer Diözese.
Als Bischof bin ich für den Dienst unserer pastoralen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter überaus dankbar. Wir brauchen diese Dienste heute wie eh und je. Daher habe ich ganz bewusst und ausdrücklich die pastoralen Berufe von den Einspa¬rungen der kommenden Jahre ausgenommen. Kirchliche Berufe sind im besten Sinn Berufe mit Zukunft!
Ich lade Sie daher herzlich ein, dass wir alle um solche Berufungen beten. Machen Sie die Sorge um kirchliche Berufe auch zu Ihrem Anliegen gemäß den Worten Jesu: „Die Ernte ist groß, aber es gibt nur wenig Arbeiter. Bittet also den Herrn der Ernte, Arbeiter für seine Ernte auszusenden.“ (Mt 9,37f
Liebe Schwestern und Brüder, die Vielfalt der Berufungen, der Dienste und Ämter baut im Zusammenwirken unsere Kirche auf. Wenn wir von der Leitung der Gemeinde sprechen, klingt aber noch eine tiefere Dimension von Kirchesein an. In ihr kommt das zum Ausdruck, was uns als Kirche von anderen Vereinigungen unterscheidet. Denn alle Dienste und Berufungen leben aus einer gemeinsamen Mitte: Jesus Christus selbst ist diese Mitte! Auf ihn ist alles bezogen, von ihm wird alles zusammengehalten. Er ruft uns in seine Nachfolge und führt uns zusammen. Richten wir unsere je eigene Berufung immer wieder neu an Jesus Christus aus. So wird auch durch uns die Gemeinschaft der Glaubenden zum wirksamen Zeichen des Heils für die Menschen.
Kirche ist lebendige Gemeinschaft mit Jesus Christus. Ihn als die eigentliche Quelle der Kirche immer wieder neu ins Bewusstsein zu rufen, ist die Aufgabe einer Berufung eigener Art. Sie ist daher für das Leben der Kirche von ganz grundlegender Bedeutung: Ich meine die Berufung zum priesterlichen Dienst.
Was diesen Dienst im Innersten ausmacht, wird besonders sichtbar in der Feier der Eucharistie. In ihr zeigt sich: Jesus Christus ist die tragende Mitte der Gemeinschaft der Kirche. Alle ihre Lebensvollzüge der Kirche haben hier ihren Ursprung und ihr Ziel. „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und in wem ich bleibe, der bringt reiche Frucht; denn getrennt von mir könnt ihr nichts vollbringen.“ (Joh 15,5) Alles muss mit Jesus Christus verbunden sein, um lebendig und fruchtbar zu sein.
Der Priester ist durch die Weihe in besonderer Weise beauftragt, der Eucharistie vorzustehen. So verweist er durch seinen Dienst auf Jesus Christus als Herrn der Kirche und eigentlichen ‚Leiter’ der Gemeinde. Das macht den tiefsten und schönsten Sinn des priesterlichen Dienstes aus. Gerade deshalb ist sein Dienst von so grundlegender Bedeutung für die Identität unserer Kirche, dass keine Gemeinde auf diesen Dienst verzichten kann. Es ist zugleich ein Anspruch, der den Priester in seiner ganzen Existenz berührt und in seinem Leben eine konkrete Gestalt gewinnen will. Deshalb hängen Priesteramt und priesterliche Lebensform so eng miteinander zusammen.
Durch die Annahme der evangelischen Räte der Ehelosigkeit, der Armut und des Gehorsams lebt der Priester so, wie Jesus selbst gelebt hat: Wie Jesus verzichtet er auf die enge Bindung an Ehe und Familie, auf die Bindung an einen festen Ort und an rein materielle Werte. Dies macht ihn frei für Gott und seinen Dienst für die Menschen. Ich weiß, dass es eines weiten Herzens und einer tiefen Gottesbeziehung bedarf, sich zu solchem Dienst rufen zu lassen und sich dafür zu entscheiden.
Auch wenn diese, die ganze Existenz einfordernde – aber eben auch ausfüllende – Lebensform des Priesters nach wie vor fasziniert, zögern doch viele junge Menschen. Das paulinische Leitbild, „allen alles zu sein“ (1 Kor 9,22), das der eine als glückliche Sendung erfährt, droht den anderen zu erdrücken: Wie wird es mir als Priester ergehen? Kann ich das ein ganzes Leben lang durchhalten? Habe ich die Kraft dazu? Werde ich genügend Unterstützung finden? - Ich weiß um diese sorgenvollen Fragen, und ich danke gerade daher ausdrücklich allen, die sich bereit gefunden haben, Priester zu sein, und auch denen, die auf dem Weg zum Priesterberuf sind.
Es ist eine meiner größten Sorgen als Bischof unserer Diözese, dass die Zahl der Bewerber für das Priesteramt in den letzten Jahren zurückgegangen ist. Das kann uns wegen der grundlegenden Bedeutung für Gemeinde, Diözese und Gesamtkirche nicht gleichgültig sein! Wir müssen uns fragen: Woran liegt es, dass sich nur so wenig junge Männer in diesen Dienst rufen lassen? Ich glaube nicht, dass es mit einfachen Antworten getan ist. Es gibt verschiedene Erklärungen, die in Kirche und Gesellschaft, im privaten und öffentlichen Leben liegen. Sicher sind die Bedingungen, dem Ruf in diesen Dienst zu folgen, schwieriger geworden.
Dies kann aber meiner Einschätzung nach die gegenwärtige Situation allein nicht erklären. Ich möchte deshalb die Fragerichtung umkehren und uns alle in die Suche nach einer Antwort miteinbeziehen: Berufungen sind immer auch ein Spiegelbild des kirchlichen Lebens und der Zuversicht, die wir als Christen ausstrahlen. Deshalb müssen auch wir uns fragen: Leben wir so, dass andere neugierig darauf werden, was der Grund unserer Hoffnung (1 Petr 3,15) ist? Sprechen wir junge Menschen ermunternd auf ihre Zukunft an, auf das, was sie mit ihrem Leben vorhaben, auf ihre Möglichkeiten und ihre Pläne? Geben wir ihnen zu erkennen, dass wir sie uns im Priesterberuf oder in einem anderen kirchlichen Dienst gut vorstellen können? Tragen wir zu einem Klima in unseren Gemeinden bei, in dem Berufungen wachsen können?
Ich bin mir sicher, dass Gott auch heute Menschen ruft. Die Frage ist, ob wir diesen Berufungen auch einen Raum geben, in dem sie zu sich kommen, sich entwickeln und zur Entscheidung heranreifen können. Und, liebe Schwestern und Brüder: da können wir etwas tun! Berufungen können nicht erzwungen werden. Sie sind von Gott gegeben und es ist immer Jesus Christus selbst, der jeden in seine Nachfolge ruft. Wir können aber ein Klima schaffen, in dem Berufungen erkannt werden und heranreifen können. Das Jahr der Berufung, das wir zu Beginn des neuen Kirchenjahres 2006/07 beginnen werden, soll hier einen deutlichen Impuls setzen! Wir wollen in diesem Jahr unsere Kirche wieder neu als eine Gemeinschaft von Berufenen entdecken. Wir wollen unserer eigenen Berufung nachspüren und darauf achten, wie wir die Berufung der anderen fördern und unterstützen können. Beginnen wir schon heute, in der österlichen Bußzeit, uns darauf vorzubereiten!
In diesem Sinn erbitte ich für Sie alle den reichen Segen Gottes: Dass Er uns mit seinem Geist begleiten und uns durch seinen Ruf herausfordern möge!
Rottenburg, am 1. Fastensonntag 2006
+ Bischof Dr. Gebhard Fürst