Das UNESCO Weltkulturerbe Białowieża-Urwald, auch “letzter Urwald Europas” genannt, erstreckt sich vom Osten Polens über die Grenze in den Westen Belarus’. Die Bevölkerung Białowieżas lebt vor allem vom Urwald-Tourismus, dessen Hauptattraktion wieder ausgewilderte europäische Wisente sind. Als Symboltier der Gegend ist der zubr namensgebend für Sportclubs, Hotels und sogar Getränkemarken wie das das zubr-Bier.
Schon in der frühen Neuzeit rankten sich Mythen, Fantasien und die Sehnsüchte vieler Herrscher dort um die Jagd nach den Wisenten, der zum Imperator der Urwalds (puszcz imperator) stilisiert wurde. Auch die Nationalsozialisten machten sich diese Bilder zu eigen: “Reichsjagdmeister” Göring plante dort ein sogenanntes „Naturschutzgebiet“. Nach dem Vorbild germanischer Mythen sollte dort eine archaische „germanische Urnatur” wiederauferstehen. Im Wisent sah Göring den Auerochsen, den er mittels eines aufwendigen Züchtungsprogramms „zurückkreuzen“ lassen wollte.
2016 bildet sich nach illegalen Baumfällungen im geschützten polnischen Teil des Waldes ein breites Bündnis aus Wissenschaftlern und Aktivisten, die durch Petitionen und Waldbesetzungen auf das Vorgehen der polnischen Waldbehörde aufmerksam machten. Trotz eines EuGH-Urteils dauern die Fällungen auch 2022 noch an.
Angetrieben von diesen Geschichten und Ereignissen reiste Helen Weber Anfang September 2021 per Anhalter mit einer Wildkamera ausgestattet zu Recherchezwecken nach Białowieża. Auf der Suche nach Bildern um die komplexe Geschichte des Waldes zwischen Territorium, Nation, Naturschutz und Wildnis (-fiktion) wurde sie dort unerwarteter Weise mit einer Gegenwart konfrontiert, in der der Białowieża als Teil der heutigen EU-Außengrenze zum Schauplatz menschenrechtswidriger Grenzpolitik wurde. Geflüchtete Menschen wurden – und werden noch – von belarussischen Behörden über die polnische Grenze gebracht, wo sie von polnischen Behörden wieder zurückgedrängt und festgehalten werden. Im schützenden Dickicht des „Urwalds“ entstand dort eine militarisierte Sperrzone, aus der wenige bis keine Bilder nach außen dringen.
Die Videoinstallation dokumentiert in sieben Videos eine fragmentarische Geschichte, die sich anhand zufälliger Begegnungen selbst zu schreiben scheint und um den Ort Białowieża kreist. Die Stimmen unterschiedlicher Zufallsbekanntschaften (Deutsche Touristen, Anwohnern, eine Soldatin und ein kriegstraumatisierter Survivaltrainer) werden zu Bildern und Geräuschen der Wildkamera arrangiert, wodurch sie zu Erzählern und Protagonisten eines unübersichtlichen Moments aus ihrer jeweiligen Perspektive werden.