Santiago de Compostela. Scheinbar planlos streift Maria Fink durch die Menschengruppen im Garten des internationalen Pilgerzentrums von Santiago de Compostela. Doch die 72-Jährige aus Kressbronn am Bodensee hat alle Sinne geschärft. Aufmerksam schaut sie in die Gesichter der Menschen und lauscht ihren Gesprächen. Maria Fink ist Pilgerseelsorgerin im spanischen Wallfahrtsort und sucht unter den Ankömmlingen nach Deutschsprachigen. Vor einem Mann, der sich allein auf einer Bank unter einem alten Orangenbaum ausruht, bleibt sie stehen und spricht ihn an. Sichtlich froh über die Kontaktaufnahme fängt der Mann sofort an zu erzählen von seinen Erlebnissen auf dem Jakobsweg. Gerade ist er in Santiago angekommen. Doch die galicische Stadt mit dem Grab des Apostels Jakobus ist für ihn nur eine Zwischenstation. Er will noch weiter bis nach Marokko. Mit einem Handschlag und den besten Wünschen verabschieden sich der Pilger und die Seelsorgerin voneinander. Während der erschöpfte Mann einen Schluck aus seiner Wasserflasche nimmt, macht sich Maria Fink wieder auf die Suche nach neuen Gesprächspartnern.
„Ankommen und erwartet werden“ lautet das Motto der deutschsprachigen Pilgerseelsorge in Santiago de Compostela. Bereits seit zehn Jahren gibt es dieses Angebot. Einer der Initiatoren neben Angela und Wolfgang Schneller - dem Pilger-Ehepaar aus Oberdischingen, das über 30 Jahre lang Menschen auf dem Weg nach Santiago begleitet hat - war Prälat Rudolf Hagmann; er ist heute Pfarrer im oberschwäbischen Tettnang. Alle drei sind Jakobsweg-Experten und haben das spirituelle Defizit der ankommenden Pilger in Santiago de Compostela selbst gespürt. „Den ganzen Weg bereitet man sich auf die Ankunft in Santiago vor, und dann ist da niemand, mit dem man in seiner Muttersprache darüber reden und das Erlebte verarbeiten kann“, sagt Rudolf Hagmann, der seinerzeit noch Leiter der Hauptabteilung Pastorale Konzeption im Bischöflichen Ordinariat in Rottenburg war. Die Idee war geboren. Zunächst engagierten sich Seelsorger in einem dreimonatigen „Testballon“ vor Ort. „Anfangs war durchaus auch bei offiziellen Stellen in Santiago Überzeugungsarbeit nötig“, sagt Prälat Hagmann. Allerdings habe Erzbischof Julián Barrio Barrio das Projekt von Beginn an aktiv unterstützt und gefördert. Dieser bedankt sich zum zehnjährigen Jubiläum bei der Deutschen Bischofskonferenz und allen ehrenamtlichen Helfern für ihr Engagement. „Danke, dass sie vor Ort sind und die Pilger so herzlich empfangen. Es ist für unsere Kirche wichtig, zu den Menschen zu gehen und sie zu begleiten“, sagt Erzbischof Julián Barrio Barrio.
Heute ist die deutschsprachige Pilgerseelsorge aus dem Angebot in Santiago nicht mehr wegzudenken. Im Gegenteil. „Mittlerweile sind auch Franzosen, Engländer, Polen und Niederländer mit ähnlichen Angeboten vor Ort präsent“, sagt Rudolf Hagmann ein wenig stolz. Organisiert wird das Angebot noch immer von der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Doch die ehrenamtlichen Seelsorger kommen mittlerweile aus vielen deutschen Diözesen sowie aus Österreich und der Schweiz. „Mit rund 50.000 Euro im Jahr wird das Projekt von der Deutschen Bischofskonferenz finanziert“, sagt Hagmann.
Das ist gut investiertes Geld, denn die Seelsorger sind gefragt. Meldeten sich 2005 knapp 94.000 Menschen im internationalen Pilgerzentrum von Santiago de Compostela, so waren es Mitte Juli 2019 bereits über 200.000 aus 177 verschiedenen Nationen. Der Legende nach wurden um 820 nach Christus die Gebeine des Apostels Jakobus an dieser Stelle im äußersten Nordwesten Spaniens entdeckt. Alfons II., König von Asturien, befahl daraufhin am Fundort des Grabes eine Kirche zu bauen. Auf deren Fundamenten steht die heutige Kathedrale von Santiago.
„Wir erwarten die Menschen, heißen sie willkommen, hören zu oder sind einfach für sie da“, sagt Maria Fink. Manchmal sind die Bedürfnisse und Nöte der Ankommenden auch ganz weltlicher Natur. Vor ein paar Tagen hat Maria Fink eine Frau, deren Fußsohlen schmerzhaft entzündet waren, zum Malteser-Zelt im Garten des Pilgerzentrums begleitet. „Während wir dort zusammen gewartet haben, hat sie zu mir gesagt: 'Wissen Sie, mit den körperlichen Schmerzen komme ich klar, aber nicht mit den seelischen'. Und schon waren wir mitten in einem sehr intensiven und persönlichen Gespräch“, sagt die 72-Jährige. Mehr kann und möchte sie über die Begegnung aber nicht sagen. „Wir unterliegen der Schweigepflicht, aber die Frau hat ihre seelische Last bei mir abgeladen und es ging ihr danach besser“, sagt Maria Fink.
Neben persönlichen Gesprächen bietet die deutschsprachige Pilgerseelsorge jeden Tag um 16 Uhr auch eine Runde an, in der sich Pilger untereinander über ihre Gefühle und Erfahrungen auf dem Jakobsweg austauschen können. Die tägliche Messe in deutscher Sprache am frühen Morgen, Beichtangebote und ein spiritueller Rundgang um die Kathedrale am Abend runden das Angebot ab. Levin jedenfalls ist begeistert davon. „Es ist ein tolles Gefühl, wenn man so empfangen und aufgenommen wird“, sagt der 21-Jährige. 12 Tage und rund 250 Kilometer war der junge Mann aus Paderborn von Porto aus auf dem Weg nach Santiago de Compostela. An diesem Morgen hat er um acht Uhr in der Kapelle San Fiz am Rande der Altstadt zusammen mit rund 20 anderen deutschsprachigen Pilgern und Pfarrer Tuan Ahn Le aus Heidenheim Gottesdienst gefeiert.
„Wir arbeiten hier in Santiago in dreiköpfigen Teams. Darunter ist immer auch ein Geistlicher“, erklärt Maria Fink, die zum dritten Mal im Einsatz ist. Von Mai bis Oktober sind deutschsprachige Pilgerseelsorger vor Ort. Alle zwei Wochen wechseln die Teams. So wie die anderen Helfer auch, leistet Maria Fink ihren Dienst in Santiago ehrenamtlich. Viele von ihnen machen dies aus Dankbarkeit für den Empfang, den Pilgerseelsorger ihnen bei der Ankunft bereitet haben. Andere sind einfach vom „Jakobsweg-Virus“ infiziert. Auch für Maria Fink war Santiago de Compostela lange ein Sehnsuchtsort. Mehrmals hat sie sich auf den Weg gemacht, konnte ihre Pilgerreise aber aus körperlichen Gründen nie mit der Ankunft in Santiago abschließen. Durch ihre Mitarbeit hier fühlt sie sich endlich in der Stadt angekommen. „Wenn ich meinen Dienst tue, bin ich ein anderer Mensch. Viel offener und mutiger. Hier kann ich leichter auf Menschen zugehen“, sagt die pensionierte Realschullehrerin und schwärmt von der „Ruhe, Gelassenheit und Friedlichkeit“, die die Stadt und die vielen internationalen Pilger ausstrahlen.
Diese Wahrnehmung bestätigt auch Christine. Die 57-Jährige stammt aus der Nähe von Köln und ist den Jakobsweg bereits zum zweiten Mal gegangen. Nach über 600 Kilometern Fußmarsch ist sie in der Stadt angekommen. In der Austauschrunde der deutschsprachigen Pilgerseelsorge erzählt sie von ihren Erfahrungen: „Die Atmosphäre auf dem Weg ist genial. Das ist ein so großes Geschenk.“ Was sie vom Jakobsweg mit nach Hause nimmt, möchte Maria Fink wissen. „Die Freundlichkeit der Menschen. Mir ist den ganzen Weg nichts Schlechtes begegnet“, sagt Christine. Vielleicht auch deshalb hat der Europarat bereits 1987 den Jakobsweg zum ersten europäischen Kulturweg erklärt. Und auch wenn die Klavierlehrerin gar nicht sagen kann wie gläubig sie ist, ist sie sich doch sicher: „Der Jakobsweg ist gelebte Kirche und moderne Kirche“.
Alle Teilnehmer der Austauschrunde sind sich einig, dass dieser Weg für Europa in Zeiten von erstarkendem Nationalismus und Radikalismus wichtiger denn je ist. „Ein Pilger hat einmal zu mir gesagt: 'Wenn alle so wären wie dieser Weg und diese Stadt, dann gäbe es keine Kriege'“, sagt Maria Fink. „Deswegen wünsche ich mir, dass sich viele Menschen auf den Weg machen und diesen Weg gehen“, ergänzt Christine. Sie selber hat sich bereits vorgenommen, im kommenden Jahr wieder nach Santiago de Compostela zu gehen. Dann will sie in Porto starten.